Soziologe sieht unterschiedliche Esskultur bei Christen

"Soziale Kontrolle" am Tisch

Teilen, Genuss und Tradition wird in Ländern wie Italien und Frankreich beim Essen großgeschrieben. Laut dem Wissenschaftler Claude Fischler hat das auch etwas mit einer langen katholischen Prägung zu tun.

Symbolbild Festliches Abendessen / © SeventyFour (shutterstock)
Symbolbild Festliches Abendessen / © SeventyFour ( shutterstock )

Sage mir was und wie du isst, und ich sage dir, wie du kulturell geprägt bist: Laut dem französischen Soziologen Claude Fischler gibt es in der westlichen Welt eine unterschiedliche Haltung zum Essen zwischen protestantisch und katholisch geprägten Ländern. 

Individueller Ernährungsplan

Das sagte Fischler der "Süddeutschen Zeitung" (Wochenende). Bei der ersten Gruppe, den USA und Großbritannien vor allem, lasse sich eine individualistische Auffassung von Ernährung beobachten. Die Erfüllung eines individuellen Ernährungsplans habe absolute Priorität. 

Der Fokus liege auf Nährstoffen, viele nähmen Nahrungsergänzungsmittel. Auch die Deutschen zeigten dies zu einem gewissen Grad.

In stark katholisch geprägten Ländern erkenne er dagegen eine kommensalistische Haltung, sagte Fischler: "Teilen, Genuss und Tradition spielen die zentrale Rolle, Nahrungsergänzungsmittel weniger." Das sehe man in Italien und Frankreich sehr deutlich.

In Frankreich gebe es die längsten und striktesten Tischzeiten und die wenigsten Menschen, die den ganzen Tag snackten, auch die wenigsten Adipositas-Erkrankten. Man stopfe nichts gedankenlos in sich hinein, teile und esse zu festen Zeiten. "Es herrscht am Tisch eine soziale Kontrolle", erläuterte der Soziologe.

"Wer gemeinsam isst, kann nicht nur an sich denken."

Die Nationen, die am wenigsten Zeit am Tisch verbrächten, hätten die höchste Rate an Übergewichtigen, führte der Soziologe weiter aus. Das sehe man an den USA und Mexiko. Dort seien es fast doppelt so viele Fälle wie in Frankreich. Das gemeinsame Essen stärke eine Gruppe, gab Fischler zu bedenken. 

Es sei Vorbild für andere soziale Strukturen, für die Gesellschaft. "Wenn wir gemeinsam essen, lernen wir Rücksicht zu nehmen, wir müssen uns arrangieren. Wer gemeinsam isst, kann nicht nur an sich denken."

Es sei in Ordnung, wenn Menschen aus medizinischen oder religiösen Gründen dieses oder jenes nicht essen könnten, räumte der Wissenschaftler ein. Dafür habe schon immer jeder Verständnis gehabt. "Aber es nimmt überhand, dass Menschen ihre bevorzugte Ernährung nachdrücklich einfordern." 

Essen sei wahnsinnig kompliziert geworden. "Wir müssen heute Entscheidungen treffen, die es vor nicht allzu langer Zeit nicht gab, weil kollektive Regeln gegriffen haben, die wir, ohne groß darüber nachzudenken, befolgt haben." Jetzt gehe es darum: Ist es vegan? Passt es zu meiner Glukose-Diät? Bitte keine Butter. Es gehe nur ums "Ich", das "Wir" bleibe bisweilen auf der Strecke, beklagte Fischler.

Mehr Menschen müssen beim Essen sparen

11,4 Prozent der Deutschen können sich nicht jeden zweiten Tag eine Mahlzeit mit Fleisch, Geflügel oder Fisch leisten.

Eine gleichwertige vegetarische Mahlzeit können sie ebenfalls nicht bezahlen, wie aus Daten der europäischen Datenschutzbehörde Eurostat für 2022 hervorgeht, die die Linken-Bundestagsfraktion beim Statistischen Bundesamt erfragt hat und die dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegen. Zuerst hatte das "RedaktionsNetzwerk Deutschland" berichtet.

Helfer teilen Essen an Bedürftige aus / © addkm (shutterstock)
Helfer teilen Essen an Bedürftige aus / © addkm ( shutterstock )
Quelle:
KNA