Syriens Hoffnungen sind mit Fragezeichen versehen

"Die Religion ist für Gott, das Vaterland für alle"?

Ein Land, keine "Minderheiten" - das ist die Hoffnung für einen künftigen syrischen Nationalstaat. Doch es bleiben Zweifel, ob die Islamisten das im Sinn haben. Eine neue Anordnung aus dem Schulministerium lässt Schlimmes befürchten.

Autor/in:
Karin Leukefeld
Eingang zur Kirche Heiliger Georg in Arbin, Syrien  / © Karin Leukefeld (KNA)
Eingang zur Kirche Heiliger Georg in Arbin, Syrien / © Karin Leukefeld ( KNA )

Mehr als 1.000 Damaszener waren kurz vor Weihnachten zu einer Protestversammlung auf den Ommayyaden-Platz in Damaskus gekommen. Die Männer und Frauen forderten die Öffnung aller Kulturstätten, die von den neuen Machthabern der Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS), der "Allianz für die Befreiung der Levante", geschlossen worden waren. Sie forderten eine Verfassung mit gleichen Rechten für alle und hoben die Rechte der Frauen hervor. Syrien müsse ein "ziviler Staat" bleiben.

Scharia als Rechtsgrundlage?

HTS-Kämpfer, die mit Waffen zu der Versammlung gekommen waren, erklärten, dass viele Syrer einen "islamischen Staat" wünschten, mit der Scharia als Rechtsgrundlage. Neue Anordnungen des Schulministeriums weisen bereits in diese Richtung. Demnach sollen Christen in der Schule nicht mehr mit "Bruder" sondern mit "Kafir", Ungläubiger, angesprochen werden.

"Die Religion ist für Gott, das Vaterland für alle", diese bekannte Parole wurde den HTS-Kämpfern entgegengehalten. Ein Redner sagte, wer von Religionen, Volksgruppen und Minderheiten spreche, spalte das Land. In Syrien gebe es keine Minderheiten, alle Syrer seien ein Volk. Im Westen sieht man die inneren Krisen, Kriege und Probleme des Landes am östlichen Mittelmeer meist als Religions- oder Minderheitenkonflikte.

Vor 2011 Beispiel friedlichen Zusammenlebens

Noch vor wenigen Jahren - vor Beginn des mörderischen Bürgerkriegs 2011 - galt Syrien als Beispiel für das friedliche Zusammenleben der verschiedensten Religionen und Volksgruppen. Das arabisch geprägte Land war ein wirtschaftliches Schwergewicht in der Region. Das brachte den eigenen Bürgern Arbeit und auch den Nachbarländern gute Gewinne. 

Syrische Christen in Damaskus tragen Kreuze / © Hussein Malla (dpa)
Syrische Christen in Damaskus tragen Kreuze / © Hussein Malla ( dpa )

Studenten aus aller Welt lernten an den Universitäten in Damaskus und Aleppo. Touristen besuchten nicht nur auf "Biblischen Reisen" die kulturellen und religiösen Stätten Libanons, Syriens und Jordaniens. Viele kamen immer wieder. 

Der Weg Abrahams, der ihn und seine Familie von Ur über die Haran-Ebene im nördlichen Euphrat-Tal sowie Aleppo, Damaskus, Nablus und Gaza bis ins Nildelta und zurückgeführt haben soll, wurde für Wanderer zum Geheimtipp.

Geprägt von religiöser Toleranz

In den großen Städten des Landes fanden sich Synagogen, Kirchen und Moscheen. Bis in die 1940er Jahre lebten Juden, Christen und Muslime zusammen, ihre unterschiedlichen Riten und Bräuche wurden im Familienrecht berücksichtigt. Nach der Gründung des Staates Israel 1948 siedelten die meisten Juden dorthin um, Christen und Muslime setzten ihre friedliche Koexistenz fort. 

Zu Ostern, Weihnachten und dem Eid-Fest nach dem islamischen Fastenmonat Ramadan gratulierte man sich gegenseitig, der Staat ordnete für alle religiösen Feiertageoffizielle Ferien an. Vor dem Krieg gab es einen interreligiösen Gesprächskreis, der von zwei Parlamentariern gegründet worden war, der eine Christ, der andere Sunnit. Das Kloster Deir Mar Musa organisierte jährlich internationale Dialog-Konferenzen.

Religionsgruppen gingen auf Abstand 

"Die Religion ist für Gott, das Vaterland für alle" - der Slogan erklärt den Glauben zur Privatsache und die Bürger zu Gleichberechtigten. Er war in den ersten Protesttagen in Syrien 2011 sehr prominent, um zu vermeiden, dass die Proteste religiös instrumentalisiert werden und die Bevölkerung spalten könnten. Als daraus ein bewaffneter Aufstand unter Führung der Muslimbruderschaft und radikaler Islamisten wurde, verstummte die Parole. Die Religionsgruppen gingen auf Abstand zueinander.

Vertreter der Drusen in Israel / © ChameleonsEye (shutterstock)
Vertreter der Drusen in Israel / © ChameleonsEye ( shutterstock )

Die größte davon sind die Muslime, die rund 87 Prozent der Bevölkerung Syriens von rund 23 Millionen ausmachen. Der Anteil der Christen beträgt zehn Prozent, drei Prozent der Syrer sind Drusen. Diese verbergen ihre religiösen Schriften und Riten vor Außenstehenden, nur Eingeweihten sind sie bekannt. Studien zufolge enthält die drusische Religion jüdische, christliche und islamische Elemente. Zuletzt sollen etwa 700.000 Drusen in Syrien gelebt haben.

Die Mehrheit der Muslime sind Sunniten (74 Prozent). Deutlich weniger sind die Schiiten (13 Prozent), die sich in die bisher herrschenden Alawiten sowie die Zwölfer-Schia und Ismaeliten aufteilen.

Sunniten

Die Sunniten folgen vier großen Rechtsschulen, die nach ihren Gründern als Schafiiten, Hanafiten, Malikiten und Hanbalitenbezeichnet werden. Die Schulen unterscheiden sich voneinander in Lehre, Recht und Pflichten und erkennen sich gegenseitig an. In Syrien finden sich vor allem Schafiiten, aber auch die strengeren Hanbaliten. Nicht nur in Syrien, auch international sind die sunnitischen Muslime deutlich in der Mehrheit.

Symbolbild Beduine / © RuslanKphoto (shutterstock)

Anders aber als beispielsweise in den arabischen Golfstaaten gelten die syrischen Sunniten eher als tolerant und in ihrem Alltagsleben als modern. Allerdings gibt es ein deutliches Stadt-Land-Gefälle. 

Während in den großen Städten die muslimische Bevölkerung einen weitgehend westlichen Lebensstil pflegt und etwa Mädchen und Frauenan Universitäten wie im Berufsleben präsent sind, leben viele sunnitische Familien in den ländlichen Gebieten konservativ. Zu ihnen zählen auch Beduinen, die in großen Stammesverbänden leben.

Schiiten

Die wichtigste schiitische Rechtsschule sind die Dschafariten aus den Reihen der Zwölfer-Schiiten. Entstanden ist die Schia aus dem Streit um die Nachfolge des Propheten Mohammed als Führer der Muslime. Die Schiiten forderten die Führung für Ali, den Cousin Mohammeds, und dessen Abkommen. 

Denn im Verständnis der Schiiten hatte Mohammed ihn als Erben benannt. Allerdings unterlag die "Schiat Ali", die Partei Alis, im Jahr 680 der sunnitischen Omayyaden-Dynastie bei Kerbala im Irak. Bis heute hat die omayyadische Hauptstadt Damaskus eine mystische Bedeutung für Sunniten.

Geächtet, verachtet und unterdrückt

In der Folge ihrer Niederlage blieben die Schiiten unter den Muslimen bis heute in der Minderheit. Sozial gesehen waren die Schiiten im von den sunnitischen Kalifen regierten islamischen Gebieten sozial geächtet, auch verachtet und unterdrückt. Mangels politischen Einflusses konzentrierten sich Schiiten auf Handel und Wissenschaft und konnten so in Bagdad und Damaskus auch unter der Herrschaft der Kalifen einen gewissen Einfluss gewinnen.

Anhänger der Schiiten-Miliz Hisbollah hören in Beirut (Libanon) im Rahmen des islamischen Festes Aschura die Geschichte des Imams Al-Husain. / © Hassan Ammar (dpa)
Anhänger der Schiiten-Miliz Hisbollah hören in Beirut (Libanon) im Rahmen des islamischen Festes Aschura die Geschichte des Imams Al-Husain. / © Hassan Ammar ( dpa )

In Syrien haben die Schiiten zwei wichtige religiöse Schreine: Zaida Zayneb, das Grab einer Tochter Alis südlich von Damaskus, und den Schrein seiner Enkelin Rukayah in unmittelbarer Nähe der Ommayyaden-Moschee. Die syrischen Orte Nubl und Zahra im Norden der Provinz Idlib waren mehrheitlich von Schiiten bewohnt. Mit Beginn des Bürgerkriegs wurden die Orte von den Kämpfern der Freien Syrischen Armee und der Nusra-Front angegriffen, belagert und schließlich evakuiert. Viele der Familien fanden Zuflucht im Ort Zaida Zayneb.

Alawiten

Die Alawiten sind eine Strömung des schiitischen Islam. Sie gelten als weniger streng in der Lehre, religiös auch verschwiegen. Aufgrund des geringen sozialen Ansehens waren die Alawiten Syriens von Schulbildung und Militärdienst ausgeschlossen. Sie arbeiteten auf Feldern und in den Haushalten der Reichen.

Erst unter dem französischen Mandat (1922-1946) wurden Alawiten zur Schulbildung und zum Militärdienst zugelassen. Der spätere Diktator Hafiz al-Assad soll der erste in seinem Dorf gewesen sein, der als alawitischer Junge die Schule besuchen durfte und später Karriere im Militär machte. 

Hafiz al-Assad förderte systematisch Alawiten. Sie nahmen Spitzenpositionen in Ministerien und im Militär ein, wobei er immer darauf achtete, auch Sunniten, Christen und Drusen in Amt und Würden zu bringen.

Syriens Präsident Bashar al-Assad / © Sana / Handout (dpa)
Syriens Präsident Bashar al-Assad / © Sana / Handout ( dpa )

Nach 50 Jahren Herrschaft der Assad-Familie ist die Ablehnung gegenüber den Alawiten besonders unter den sunnitischen Muslimen groß. Dabei wird vergessen, dass nur ein Bruchteil der syrischen Alawiten an der Seite des letzten Präsidenten Baschar al-Assad von Macht und Einnahmen profitierte. 

Die überwiegende Mehrheit der alawitischen Küstenbewohner ist arm, viele verloren durch Angriffe der Dschihadisten Angehörige. Mindestens ein Drittel der Soldaten, die im Krieg starben, waren Alawiten.

Ismaeliten

Die Ismaeliten sind ebenfalls eine Strömung des schiitischen Islam und mit heute vermutlich weniger als einem Prozent eine sehr kleine Minderheit. Ihr syrisches Zentrum ist die Kleinstadt Salamieh östlich von Hama auf dem Weg nach Homs. 

Die Ismaeliten haben ein tolerantes, eher mystisches Verständnis des Islam. Gesellschaftlich gelten sie als modern und aufgeklärt. Ihre historischen Wurzeln liegen in der Dynastie der Fatimiden, die im 10. Jahrhundert in Ägypten die Macht eroberten.

In Syrien wurden sie in der Folgezeit als fanatische Kämpfer, als "Assassinen" bekannt, die bei Anschlägen hochrangige Herrscher ermordeten. Ihre Anschläge gegen zwei Kalifen aus Bagdad trugen im 12. Jahrhundert dazu bei, dass sich die Herrschaft Bagdads über Damaskus löste.

Sufismus

Sowohl unter Sunniten als auch Schiiten in Syrien findet sich der Sufismus. Diese in Orden organisierte, sehr spirituelle Form des Glaubens ist in der ganzen islamischen Welt verbreitet. Der Sufismus ist asketisch und stellt die persönliche Suche nach Gott in den Mittelpunkt. 

Seine Vertreter gelten als tolerant und orientiert auf friedliches, gutes Zusammenleben. Orthodoxe Sunniten warfen den Sufis häufig unislamische Tendenzen vor, weil viele Orden die formale Glaubenspraxis und die Regeln der Scharia weniger streng auslegen.

Christen

Die mindestens acht christlichen Richtungen in Syrien teilen sich allgemein in orthodoxe und katholische Kirchen auf. Die Kirchen des Ostens oder von Antiochien haben zum Vatikan ein eher distanziertes Verhältnis und umgekehrt. Der Vatikan ist in Damaskus mit einem Botschafter vertreten, dem Nuntius. 

Christliche und sunnitische Mädchen in einer Straße in Homs, Syrienv / © Jean-Matthieu Gautier (KNA)
Christliche und sunnitische Mädchen in einer Straße in Homs, Syrienv / © Jean-Matthieu Gautier ( KNA )

Fast jede christlich-östliche Tradition, orthodox bzw. orientalisch orthodox als auch die mit der römisch-katholischen Kirche unierten Teilkirchen existieren in Syrien: griechisch-katholisch, griechisch-orthodox, syrisch-orthodox, syrisch-katholisch, armenisch-katholisch, armenisch-apostolisch und weitere. Die Christen heiraten untereinander, Ehen zwischen Christen und Muslimen gibt es in Syrien quasi nicht.

Rückzug als Schutz?

Doch welche Zukunft steht der ethnischen und religiösen Vielfalt Syriens bevor, die so lange einen einzigartigen kulturellen Reichtum bedeutete? Die Brücken zwischen den verschiedenen Kulturen sind nach vielen Jahren Krieg zerfallen. 

Die Gesellschaft, die wegen ihrer miteinander verwobenen Verschiedenheit als "syrisches Mosaik" oder "syrisches Gewebe" galt, sieht sich auch nach dem Sturz der Assad-Diktatur großen Gefahren gegenüber - oder angesichts der neuen islamistischen Machthaber gerade jetzt.

Zum vermeintlich eigenen Schutz ziehen sich die Menschen auf ihre ursprüngliche religiöse oder kulturelle Herkunft zurück, in die Familien, in die Dörfer ihrer Vorfahren. Christen gehen in ihre Dörfer im Wadi Nazara, Ismaeliten ziehen nach Salamieh, die Drusen nach Sweida, die Alawiten in die Küstenregion zwischen Latakia und Tartus. 

Kurden, die religiös den sunnitischen Muslimen zugehören, ziehen in den Nordosten des Landes, obwohl eines ihrer Kerngebiete westlich von Aleppo um die Stadt Afrin liegt. Kurdische Präsenz gibt es aber auch in Damaskus.

Die östlichen Wüstengebiete entlang des Euphrat-Tals bis Deir ez-Zor - wo sich heute kurdische bewaffnete Einheiten aufhalten - sind der ursprünglichen kurdischen Kultur und Herkunft völlig fremd. 

Syrien, Damaskus: Rauchschwaden steigen auf, während Menschen in Damaskus, den Sturz der syrischen Regierung feiern. / © Ugur Yildirim/DIA Photo/AP (dpa)
Syrien, Damaskus: Rauchschwaden steigen auf, während Menschen in Damaskus, den Sturz der syrischen Regierung feiern. / © Ugur Yildirim/DIA Photo/AP ( dpa )

Der zumeist aus Wüste bestehende Osten Syriens ist - wie der Westen des Iraks - das Gebiet der arabischen Stämme und der Beduinen, die zwischen dem irakischen Norden bis hinunter an den Persischen Golf ziehen oder entlang der irakisch-syrischen Grenze Richtung Jordanien leben.

Mit dem Vormarsch der islamistischen HTS an die Macht in Damaskus werden alte Bilder wieder wach. Nicht vergessen unter den Syrern ist die blutige Geschichte der Miliz, die vormals Nusra-Front hieß und sich als Niederlassung von Al-Kaida in Syrien verstand. Viele Syrer haben Erinnerungen an die schrecklichen Massaker, Entführungen und Zerstörungen, die Kämpfer dieser Gruppen verübten.

Extremistische Parolen verbreiten sich wieder

Die Autorin selbst hat in den vergangenen Jahren von vielen Orten Syriens berichtet, wo Kirchen geplündert und zerstört wurden. InMaalula, wo die Christen noch die Sprache Jesu sprechen, fühlen sie sich in diesen Tagen an den Einmarsch der Nusra-Front 2013 erinnert, den eine alteingesessene sunnitische Familie begünstigt hatte. Die Klöster der Heiligen Thekla und der Heiligen Sergios und Bacchus wurden geplündert und angezündet, einer der ältesten bekannten Altäre im Sergios-Kloster zerschlagen.

Radikale Parolen

Ungehindert verbreiten sich radikale Parolen der fundamentalistischen Wahhabiten, der Salafisten und anderer Vertreter eines radikalen sunnitischen Islams. Man werde die Köpfe der Christen beugen, erklärte ein gewisser Abu Ahmad al-Dschazairy in einem Video auf Facebook, das große Reichweite fand. "Euer Glaube wird in euren Häusern praktiziert und ihr werdet vor uns mit gesenktem Kopf gedemütigt, Damaskus ist sunnitisch-omayyadisch", kündigt der Mann an, der - so sein Name - aus Algerien stammt.

Syrische Sunniten bewerteten gegenüber der Autorin die Sprache in dem Video-Clip als "gefährlich und hetzerisch". Er "glaube nicht, dass es viele gibt, die das unterstützen", so ein Gesprächspartner in Damaskus. Er selber habe "sechs Jahre in Algerien gelebt, und dort sagt man von einem Christen, er sei 'Ghauri', was auf Türkisch 'Ungläubiger' bedeutet". 

Allerdings gebe es in der HTS-Allianz "Ausländer, die unsere Gesellschaft nicht kennen", so der Mann weiter. Seine Freunde und Nachbarn, auch solche, die anderen Religionen angehörten, hätten regelrecht Angst. Und weiter: "Vielleicht haben sie Recht?"

Quelle:
KNA