In Tabgha finden Menschen mit Behinderung Zuflucht

Flucht vor dem Krieg ins Paradies

Eine Gruppe von Menschen mit Behinderten wohnt seit den Hamas-Attacken in der Jugendbegegnungsstätte "Beit Noah" der Benediktiner am See Genezareth. Bei Raketenalarm greifen sie zur Gitarre - und lösen so die Anspannung der anderen.

Autor/in:
Andrea Krogmann
Zwei Hände von einem Freiwilligen und einer betreuten Person aus Kfar Rafael in Tabgha / © Andrea Krogmann (KNA)
Zwei Hände von einem Freiwilligen und einer betreuten Person aus Kfar Rafael in Tabgha / © Andrea Krogmann ( KNA )

In der Dorfgemeinschaft für Behinderte "Kfar Rafael" hat man bei einem Raketenalarm 60 Sekunden Zeit, um sich in den Schutzraum zu begeben. Als Nichtbehinderter kann das eine arge Herausforderung sein; je nachdem, wo einen der Alarm erwischt. In einer Hausgemeinschaft mit bis zu acht Menschen mit besonderen Bedürfnissen ist es unmöglich.

Zwischen Kfar Rafael am westlichen Stadtrand von Beerscheba und dem Gazastreifen liegen 35 Kilometer. Gibt es am Gazastreifen Gewalt, evakuieren sich die Familien von Kfar Rafael und ihre Betreuten an Orte in sichereren Landesteilen.

Rollator einer Person, die zur vor dem Krieg geflüchteten Gruppe Behinderter aus Kfar Rafael (Israel) gehört / © Andrea Krogmann (KNA)
Rollator einer Person, die zur vor dem Krieg geflüchteten Gruppe Behinderter aus Kfar Rafael (Israel) gehört / © Andrea Krogmann ( KNA )

Erstmals haben zwei der sieben Familien seit 9. Oktober in der Jugend- und Behindertenbegegnungsstätte "Beit Noah" der deutschsprachigen Benediktiner in Tabgha am See Genezareth Zuflucht gefunden.

Gesang und Scherze bei Luftalarm

"Wenn bei uns der Raketenalarm losgeht, freuen sich unsere Bewohner", sagt Gal Levy lachend. Mit dem bedrohlichen Klang verbinden die Betreuten von Kfar Rafael Ausflüge und Ferien. "Wenn wir den Schutzraum aufsuchen müssen, versuchen wir, das ganze mit Leichtigkeit zu verbinden.

Wir singen, machen Scherze" - ob nun im heimischen Kfar Rafael oder im Bunker auf dem Gelände der Benediktiner in Tabgha. Denn auch dort hat man nur 60 Sekunden Zeit.

Das Benediktinerkloster Tabgha in Israel mit der Brotvermehrungskirche ist umgeben von Olivenbäumen und einem Hügel am 26. September 2017. / © Corinna Kern (KNA)
Das Benediktinerkloster Tabgha in Israel mit der Brotvermehrungskirche ist umgeben von Olivenbäumen und einem Hügel am 26. September 2017. / © Corinna Kern ( KNA )

Anders als im Süden blieb das Idyll am See trotz der zunehmend angespannten Lage an der Nordgrenze Israels zum Libanon von Raketenalarmen verschont - bis auf einen am 11. Oktober, der weite Teile des israelischen Nordens für 90 Minuten in Panik versetzte.

Ausgerechnet die Gruppe aus Kfar Rafael sorgte dafür, dass im Schutzraum zwischen Kloster und Begegnungsstätte die Stimmung entspannt blieb.

Mit Gitarre und Gesang nahmen die Behinderten und ihre Betreuer vor allem den kriegsunerfahrenen deutschen Freiwilligen etwas von der Anspannung, erzählt Prior Josef San Torcuato. "Eine Win-Win-Situation", meint Gal Levy.

Die vertraute Umgebung schafft Sicherheit

Der Alarm, der sich später als Fehlalarm rausstellte, fiel ungefähr in die Zeit des Abendessens, erinnert er sich. Als die Entwarnung ausblieb, sei er zwischen Küche und Bunker gependelt, um Essen zu holen. "Ein Raketenalarm ist schlimm - aber kein Abendessen, das ist für unsere Gruppe eine Katastrophe", sagt er lachend.

Brotvermehrungskirche und Kloster Tabgha / © Corinna Kern (KNA)
Brotvermehrungskirche und Kloster Tabgha / © Corinna Kern ( KNA )

Dann wird Gal Levy ernst. Was den meisten Menschen Sicherheit gebe, seien eine vertraute Umgebung, vertraute Routinen; "für unsere Dorfbewohner noch mal mehr - sie haben nicht die Fähigkeit, sich rational mit der Situation auseinanderzusetzen".

Der Rhythmus, den die Mönche im Kloster leben, kommt dem Sicherheitsbedürfnis der Gruppe entgegen. Dass sie hier diese angespannte Zeit verbringen können, sei ein Segen. Das sehen auch die Mönche von Tabgha so.

Die Präsenz der Gruppe, sagen Prior Josef und sein Mitbruder Elias Pfiffi, tue dem Kloster, der Gemeinschaft und dem Ort gut.

Gäste genießen das milde Klima

Bald werden sie wieder nach Kfar Rafael zurückfahren. Dann müssten sie eine neue Routine finden, sagt Levy. Noch immer steht der Süden Israels unter Beschuss aus dem Gazastreifen.

Eine vor dem Krieg geflüchtete Gruppe von Menschen mit Behinderung aus Kfar Rafael (Israel) baden / © Andrea Krogmann (KNA)
Eine vor dem Krieg geflüchtete Gruppe von Menschen mit Behinderung aus Kfar Rafael (Israel) baden / © Andrea Krogmann ( KNA )

Noch aber genießen die Bewohner von Kfar Rafael die Ruhe und das milde Klima am See. Es wird im Freien gepuzzelt und gemalt, ein Ausflug ans Seeufer gemacht; oder man kann die Beine im 25 Grad warmen Quellwasser des Pools baumeln lassen. Dazwischen helfen die Gäste bei einfachen Gartenarbeiten. Auch das ist etwas, was an die Routinen zuhause anknüpft.

"In Kfar Rafael leisten alle nach ihrem Vermögen einen Beitrag zur Gemeinschaft; beim Weben, Backen, Kochen oder eben im Nutzgarten", erklärt Gal Levy.

Oder beim Vorbereiten des Abendessens, für das die Tische diesmal besonders festlich gedeckt sind. Es ist Schabbat, der jüdische Ruhetag, der auch in Tabgha knapp 240 Kilometer weg von zuhause feierlich begangen wird.

Gemeinsames Essen 

Die Gruppe hat Gäste zum Essen auf die Terrasse vor dem Beit Noah eingeladen. Madeleine, eine der Betreuten, faltet Küchenrollenblätter zu Servietten, die sie liebevoll zwischen den bunten Plastiktellern platziert. Vorher hat sie sich ihr Lieblingskleid anziehen lassen. 

Mittagessen im Park der Begegnungsstätte Beit Noah / © Corinna Kern (KNA)
Mittagessen im Park der Begegnungsstätte Beit Noah / © Corinna Kern ( KNA )

Das zarte Rosa harmoniert mit den Drillingsblumen, die auf dem ganzen Gelände in voller Blüte stehen. Madeleine strahlt. "Es ist so ein schöner Ort hier", sagt sie, und "ich will hier nicht weg".

Noemi Steiner, die 18-jährige Zivildienstleistende aus Jerusalem, könnte es nicht besser formulieren. "Es gefällt mir so sehr, dass ich in vielen Momenten gern mehr von dem Ort hätte, mehr Zeit für mich." Dann dekoriert sie ein paar Blumen frisch aus dem Garten in ein leeres Marmeladenglas.

Gitarre, Cello und Schabbatgesänge

Auf der Terrasse duftet es an diesem Abend nach Frischgebackenem. Freunde der Gruppe aus dem Kibbuz Harduf haben traditionelle Schabbatbrote, Challot, gebacken. Zwei Kerzen und die Blumen markieren den Übergang zum jüdischen Ruhetag. Gitarre, Cello und Schabbatgesänge begleiten den Abend.

Musikprobe in der Kirche des Benediktinerklosters Tabgha 
 / © Andrea Krogmann (KNA)
Musikprobe in der Kirche des Benediktinerklosters Tabgha / © Andrea Krogmann ( KNA )

Später geht man gemeinsam in die Klosterkirche, "Generalprobe" für das Brotvermehrungsfest der Benediktinergemeinde, zu dem die Gäste aus dem Süden selbstverständlich eingeladen sind.

Mit Cello und Flöte begleiten Hauseltern und Freiwillige den Festgottesdienst.

Das letzte Wort des Festtags werden die Bewohnerinnen und Bewohner von Kfar Rafael haben. "Dona nobis pacem", werden sie dann singen. Ein Wunsch, der wohl allen hier besonders am Herzen liegt.

Heilpädagogisches Dorf Kfar Rafael

Der Grundstein für das heilpädagogische Dorf Kfar Rafael ("Dorf des Erzengels Rafael") wurde 1979 gelegt. Inspiriert von Rudolf Steiner und seinen therapeutischen Ansätzen der Heilpädagogik (anthroposophische Sonderpädagogik) und der Sozialtherapie leben in Kfar Rafael Hauseltern in Gemeinschaft mit erwachsenen Menschen mit besonderen Bedürfnissen.

Anstoß zur Gründung des Dorfes war eine bestehende Einrichtung für Kinder mit Behinderungen, das "Beit Elijahu" in Beerscheba und der Gedanke, die Arbeit auf Erwachsene mit Behinderungen auszuweiten.

Ein Freiwilliger hilft einer behinderten Frau, die zu einer vor dem Krieg geflüchteten Gruppe Behinderter aus Kfar Rafael in Israel gehört. / © Andrea Krogmann (KNA)
Ein Freiwilliger hilft einer behinderten Frau, die zu einer vor dem Krieg geflüchteten Gruppe Behinderter aus Kfar Rafael in Israel gehört. / © Andrea Krogmann ( KNA )
Quelle:
KNA