In der Dorfgemeinschaft für Behinderte "Kfar Rafael" hat man bei einem Raketenalarm 60 Sekunden Zeit, um sich in den Schutzraum zu begeben. Als Nichtbehinderter kann das eine arge Herausforderung sein; je nachdem, wo einen der Alarm erwischt. In einer Hausgemeinschaft mit bis zu acht Menschen mit besonderen Bedürfnissen ist es unmöglich.
Zwischen Kfar Rafael am westlichen Stadtrand von Beerscheba und dem Gazastreifen liegen 35 Kilometer. Gibt es am Gazastreifen Gewalt, evakuieren sich die Familien von Kfar Rafael und ihre Betreuten an Orte in sichereren Landesteilen.
Erstmals haben zwei der sieben Familien seit 9. Oktober in der Jugend- und Behindertenbegegnungsstätte "Beit Noah" der deutschsprachigen Benediktiner in Tabgha am See Genezareth Zuflucht gefunden.
Gesang und Scherze bei Luftalarm
"Wenn bei uns der Raketenalarm losgeht, freuen sich unsere Bewohner", sagt Gal Levy lachend. Mit dem bedrohlichen Klang verbinden die Betreuten von Kfar Rafael Ausflüge und Ferien. "Wenn wir den Schutzraum aufsuchen müssen, versuchen wir, das ganze mit Leichtigkeit zu verbinden.
Wir singen, machen Scherze" - ob nun im heimischen Kfar Rafael oder im Bunker auf dem Gelände der Benediktiner in Tabgha. Denn auch dort hat man nur 60 Sekunden Zeit.
Anders als im Süden blieb das Idyll am See trotz der zunehmend angespannten Lage an der Nordgrenze Israels zum Libanon von Raketenalarmen verschont - bis auf einen am 11. Oktober, der weite Teile des israelischen Nordens für 90 Minuten in Panik versetzte.
Ausgerechnet die Gruppe aus Kfar Rafael sorgte dafür, dass im Schutzraum zwischen Kloster und Begegnungsstätte die Stimmung entspannt blieb.
Mit Gitarre und Gesang nahmen die Behinderten und ihre Betreuer vor allem den kriegsunerfahrenen deutschen Freiwilligen etwas von der Anspannung, erzählt Prior Josef San Torcuato. "Eine Win-Win-Situation", meint Gal Levy.
Die vertraute Umgebung schafft Sicherheit
Der Alarm, der sich später als Fehlalarm rausstellte, fiel ungefähr in die Zeit des Abendessens, erinnert er sich. Als die Entwarnung ausblieb, sei er zwischen Küche und Bunker gependelt, um Essen zu holen. "Ein Raketenalarm ist schlimm - aber kein Abendessen, das ist für unsere Gruppe eine Katastrophe", sagt er lachend.
Dann wird Gal Levy ernst. Was den meisten Menschen Sicherheit gebe, seien eine vertraute Umgebung, vertraute Routinen; "für unsere Dorfbewohner noch mal mehr - sie haben nicht die Fähigkeit, sich rational mit der Situation auseinanderzusetzen".
Der Rhythmus, den die Mönche im Kloster leben, kommt dem Sicherheitsbedürfnis der Gruppe entgegen. Dass sie hier diese angespannte Zeit verbringen können, sei ein Segen. Das sehen auch die Mönche von Tabgha so.
Die Präsenz der Gruppe, sagen Prior Josef und sein Mitbruder Elias Pfiffi, tue dem Kloster, der Gemeinschaft und dem Ort gut.
Gäste genießen das milde Klima
Bald werden sie wieder nach Kfar Rafael zurückfahren. Dann müssten sie eine neue Routine finden, sagt Levy. Noch immer steht der Süden Israels unter Beschuss aus dem Gazastreifen.
Noch aber genießen die Bewohner von Kfar Rafael die Ruhe und das milde Klima am See. Es wird im Freien gepuzzelt und gemalt, ein Ausflug ans Seeufer gemacht; oder man kann die Beine im 25 Grad warmen Quellwasser des Pools baumeln lassen. Dazwischen helfen die Gäste bei einfachen Gartenarbeiten. Auch das ist etwas, was an die Routinen zuhause anknüpft.
"In Kfar Rafael leisten alle nach ihrem Vermögen einen Beitrag zur Gemeinschaft; beim Weben, Backen, Kochen oder eben im Nutzgarten", erklärt Gal Levy.
Oder beim Vorbereiten des Abendessens, für das die Tische diesmal besonders festlich gedeckt sind. Es ist Schabbat, der jüdische Ruhetag, der auch in Tabgha knapp 240 Kilometer weg von zuhause feierlich begangen wird.
Gemeinsames Essen
Die Gruppe hat Gäste zum Essen auf die Terrasse vor dem Beit Noah eingeladen. Madeleine, eine der Betreuten, faltet Küchenrollenblätter zu Servietten, die sie liebevoll zwischen den bunten Plastiktellern platziert. Vorher hat sie sich ihr Lieblingskleid anziehen lassen.
Das zarte Rosa harmoniert mit den Drillingsblumen, die auf dem ganzen Gelände in voller Blüte stehen. Madeleine strahlt. "Es ist so ein schöner Ort hier", sagt sie, und "ich will hier nicht weg".
Noemi Steiner, die 18-jährige Zivildienstleistende aus Jerusalem, könnte es nicht besser formulieren. "Es gefällt mir so sehr, dass ich in vielen Momenten gern mehr von dem Ort hätte, mehr Zeit für mich." Dann dekoriert sie ein paar Blumen frisch aus dem Garten in ein leeres Marmeladenglas.
Gitarre, Cello und Schabbatgesänge
Auf der Terrasse duftet es an diesem Abend nach Frischgebackenem. Freunde der Gruppe aus dem Kibbuz Harduf haben traditionelle Schabbatbrote, Challot, gebacken. Zwei Kerzen und die Blumen markieren den Übergang zum jüdischen Ruhetag. Gitarre, Cello und Schabbatgesänge begleiten den Abend.
Später geht man gemeinsam in die Klosterkirche, "Generalprobe" für das Brotvermehrungsfest der Benediktinergemeinde, zu dem die Gäste aus dem Süden selbstverständlich eingeladen sind.
Mit Cello und Flöte begleiten Hauseltern und Freiwillige den Festgottesdienst.
Das letzte Wort des Festtags werden die Bewohnerinnen und Bewohner von Kfar Rafael haben. "Dona nobis pacem", werden sie dann singen. Ein Wunsch, der wohl allen hier besonders am Herzen liegt.