DOMRADIO.DE: Die Kirche Jesu Christi soll eigentlich nur eine sein. Das gilt als urchristlicher Anspruch. Konfessionen wie orthodox, römisch-katholisch oder evangelisch in strenger Trennung sollen nicht sein. Allgemein gefragt, kann der neue Text die Gegensätze etwas abmildern?
Prof. Dorothea Sattler (Professorin für Dogmatik und ökumenische Theologie an der Universität Münster): Das neue Dokument ist in der Geschichte der Ökumenischen Bewegung von sehr hoher Bedeutung. Es schließt an Anliegen von Johannes Paul II an, die bereits 1995 hohe Aufmerksamkeit erfahren haben.
Mit dem Papst in ein Gespräch über die Ausübung seines Amtes kommen, das ist das Anliegen. Die Wertschätzung der anderen Konfessionen kommt allein schon darin zum Ausdruck, dass sie bald schon um eine Stellungnahme gebeten werden.
Die anderen Traditionen werden in ihrer Eigenständigkeit damit formal ernst genommen. Die Textatmosphäre ist einladend. Es geschieht ein Angebot, das Gespräch auf Augenhöhe fortzusetzen.
DOMRADIO.DE: Der Titel "Patriarch des Westens", welcher noch von Benedikt XVI. abgelegt worden ist, soll nun wiederaufleben. Es soll laut Dokument zwischen dem patriarchalischen Amt in der Kirche des Westens und dem Amt der Einheit in der Gemeinschaft der Kirchen im Westen und im Osten unterschieden werden. Worin besteht der Unterschied?
Sattler: Es gibt eine altkirchliche Ordnung, das Modell der "Pentarchie". Es benennt fünf Patriarchate in der Rangfolge Rom, Konstantinopel, Alexandria, Antiochien und Jerusalem. Das Modell wurde im ersten Jahrtausend weithin anerkannt.
Der Westen, damals war nur Europa bekannt, untersteht demnach der Jurisdiktion von Rom, der Osten nicht. Eine Betonung des Patriarchats von Rom nur im Westen eröffnet der Orthodoxie in einem höheren Maße rechtliche Eigenständigkeit.
Zugleich stellt sich kontrovers die Frage, was das für die Kirchen der Reformation bedeutet, die weiterhin rechtlich Rom unterstehen. Diesbezüglich bedarf es weiterer Gespräche. Die Preisgabe der Idee der Pentarchie hätte den Vorteil, im Westen über neue Modelle der Autorität nachzudenken – unter Einbezug der reformatorischen Traditionen.
DOMRADIO.DE: Ein Hemmschuh ist die Unfehlbarkeit des Papstes gewesen, dass nichts und niemand – auch kein Konzil – über ihm steht. Diese Lehren, die während des Ersten Vatikanischen Konzils erstmals so formuliert worden sind, sind laut Dokument "zutiefst konditioniert durch ihren historischen Kontext" gewesen.
Die katholische Kirche solle daher nach neuen Ausdrücken und Vokabeln suchen, die an den "aktuellen und ökumenischen Kontext" angepasst seien. Ist das als eine Art Distanzierung von den Entschlüssen des Ersten Vatikanischen Konzils zu lesen?
Sattler: Nein. Das neue Studiendokument distanziert sich an keiner Stelle von der Lehrtradition. Es tut jedoch etwas, was wir in der gegenwärtigen Reformdebatte dringend brauchen: Es bemüht sich darum, einen wissenschaftlichen Standard zu erreichen.
Eine Einordnung der Beschlüsse des Ersten Vatikanischen Konzils in seine historischen Kontexte ist dringend erforderlich. Auch eine Anstrengung in der Rezeption bibeltheologischer Erkenntnisse ist wichtig.
Das neue Studiendokument ist eine willkommene Einladung zu einer erneuten wissenschaftlichen Befassung mit den Themen, eine Einladung zur Argumentation, die wir auch in anderen strittigen theologischen Fragen dringend wünschen.
DOMRADIO.DE: Wenn die päpstliche Unfehlbarkeit etwas zurücktritt, würde das nicht auch Interpretationsspielraum für andere Dogmen ergeben, könnte es dann nicht sogar eine Art Erosion der päpstlichen Lehrautorität geben?
Sattler: Ich verstehe das Dokument so, dass es um Vertrauen in die Argumentation werben will. Auf Dauer wird sich die päpstliche Autorität nicht gegen wissenschaftlich begründete Argumente durchsetzen können. Synodale Beratungen in ökumenischer Gemeinschaft, zu denen das Studiendokument einlädt, stärken die kirchliche Autorität, weil die Ergebnisse begründet werden.
DOMRADIO.DE: Als wichtiges Element gilt auch die Betonung der Synodalität der Kirche. Die will Franziskus ohnehin neu betonen. Das Dokument schlägt regelmäßige Treffen zwischen Kirchenführern auf weltweiter Ebene vor. Andererseits soll das Amt des Bischofs von Rom für seine Diözese wieder stärker betont werden. Was bedeutet das für die Weltkirche?
Sattler: Ich bin sehr dankbar dafür, dass in einem so hohen Maße die ökumenische Bedeutung des Synodalen Prozesses in diesem Studiendokument gewürdigt wird. So geschieht es auch schon im Synthese-Bericht zum ersten Teil der Weltsynode 2023.
Nun wird die Verbindung zwischen dem römisch-katholischen Reformprozess und der Ökumene nochmals sehr betont – auch durch die gemeinsame Präsentation des Studiendokuments durch die Kardinäle Koch und Grech.
In der Ökumene gibt es eine lange Erfahrung mit der Tatsache, dass argumentativ qualifizierte Beratungen Bedeutung bei der Entscheidungsfindung von Autoritäten im kirchlichen Raum haben. Die Verweise auf die Tradition der unierten Ostkirchen mit ihrer Wertschätzung von Synodalität sind auch sehr wichtig. Dort gibt es schon lange eine Partizipation von Laien.
DOMRADIO.DE: Wie ist Ihre Einschätzung? Wie sehr kann dieses Dokument die römische Kirche verändern?
Sattler: Ich hoffe, dass das Studiendokument erneut ein Engagement auslöst, über das Dienstamt des Bischofs von Rom gemeinsam nachzudenken. Die Ausübung des Amts zum Wohl aller steht dabei im Mittelpunkt. Nicht nur das Amt des Papstes als einen Dienst zu verstehen, ist bei allen Fragen der Ämterlehre sehr wichtig.
Das Studiendokument ist ein Erweis dafür, dass sich die Römisch-katholische Kirche derzeit in einen umfassenden Reformprozess begeben hat. Bei dem sind authentisch geführte Beratungen einflussreich, um kluge Entscheidungen zu treffen.
Alle Kirchen erfahren in diesem Studiendokument Achtung und Aufmerksamkeit. Wir sind in der Ökumene gemeinsam auf dem Weg, eine "Synodale Kirche" zu werden. Manche Konfessionen haben schon eine längere Erfahrung mit dieser Form, nicht zuletzt auch in der Teilhabe von Frauen an den Beratungen.
Die Fragen stellte Jan Hendrik Stens.