Ukrainische Generalkonsulin spricht über Krieg in ihrem Land

"In Russland herrscht die Souveränität der Lüge"

Die diplomatischen Möglichkeiten sind längst ausgeschöpft. Gnadenlos wird in der Ukraine seit 730 Tagen ein Vernichtungskrieg geführt. Was macht das dort mit den Menschen? Und woraus schöpfen sie Kraft zum Weitermachen?

Ukrainischer Soldat während Evakuierung in Irpin im März 2022 / © Kutsenko Volodymyr (shutterstock)
Ukrainischer Soldat während Evakuierung in Irpin im März 2022 / © Kutsenko Volodymyr ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Zwei Jahre Krieg in der Ukraine und ein Ende ist nicht absehbar. Hätten Sie das bei Ausbruch des Krieges vor zwei Jahren für möglich gehalten?

Iryna Shum ist ukrainische Generalkonsulin für NRW / © Beatrice Tomasetti (DR)
Iryna Shum ist ukrainische Generalkonsulin für NRW / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Iryna Shum (Generalkonsulin der Ukraine in Düsseldorf): Damals konnte sicherlich niemand ahnen, wie sich dieser Krieg entwickeln würde. Allerdings hat er für uns nicht erst am 24. Februar 2022 begonnen, sondern bereits 2014 mit der Annexion der Krim und den Kriegshandlungen der russischen Streitkräfte im Donbass, dem Abschuss der MH-17 Passagiermaschine und anderen Gräueltaten durch die Russen. Schon damals waren viele Menschen von diesem kriegerischen Konflikt betroffen. Das Thema Krieg ist für uns also seit zehn Jahren Realität. Als Putin allerdings dann im November 2021 begann, seine Truppen an der Grenze zur Ukraine zu stationieren, spitzte sich die Bedrohungslage noch einmal dramatisch zu und wir wussten, dass dieser Aufmarsch mehr als nur eine Drohgebärde sein und es zum Unvermeidlichen kommen würde. 

Dennoch erschien uns das, was dann tatsächlich geschah, im 21. Jahrhundert als undenkbar. Der Überfall auf unser Land war für uns alle ein riesiger Schock. Und in einer solchen Ausnahmesituation entwirft man keine Perspektive, sondern denkt nur noch in überschaubaren Zeitfenstern, lebt gewissermaßen von Stunde zu Stunde. Denn niemand weiß, was in der nächsten Minute passiert. So jedenfalls habe ich diesen Angriff aus der Distanz erlebt. Nochmals anders – nämlich viel unmittelbarer, erschütternder und auch tödlicher – wird das für meine Landsleute in der Ukraine gewesen sein, deren große Herausforderung von jetzt bis gleich darin bestand, den nächsten Tag zu überleben und dem Dauerbeschuss zu entkommen.

Täglich finden in der Ukraine Beerdigungen von Soldaten statt - wie hier am 17. Februar in Lwiw gleich fünf (Erzdiözese Lwiw)
Täglich finden in der Ukraine Beerdigungen von Soldaten statt - wie hier am 17. Februar in Lwiw gleich fünf / ( Erzdiözese Lwiw )

DOMRADIO.DE: Seit dem 24. Februar 2022 prägt der Krieg Ihren Alltag als Berufsdiplomatin. Vor allem helfen Sie Ihren geflüchteten Landsleuten bei einem Weg in ein neues Leben. Wie erleben Sie die Menschen, die in Deutschland ankommen? 

Shum: Die ersten Geflüchteten gingen zunächst davon aus, dass sie lediglich für zwei, drei Wochen bleiben würden. Es hat dann etwa ein Jahr gedauert, bis sie in der Realität angekommen sind und verstanden haben, dass der Krieg nichts Vorübergehendes sein würde und sie nun doch allmählich die Koffer auspacken sollten, weil es erst einmal kein Zurück nach Hause gab. 

Die Gefühle der Menschen sind wie die Menschen selbst: sehr unterschiedlich. Zum einen sind sie stolz auf das eigene Land und auf die Menschen, die für das einstehen, was allen Ukrainern wichtig ist: Heimat und demokratische Werte. Auf der anderen Seite empfinden sie einen riesigen Schmerz angesichts des Unrechts, das ihnen widerfährt, und der zerstörerischen Kraft, die sie am eigenen Leib zu spüren bekommen. Statt das Land voranzubringen und sich für die Zukunft ihrer Kinder stark zu machen, kämpfen sie ums Überleben oder sehen mit an, wie viele Menschen in diesem Krieg ihr Leben lassen. Das emotional zu bewältigen, ist für die Hinterblieben sehr schwer. 

Iryna Shum

"Was der Krieg für die Zivilbevölkerung, aber auch die vielen Soldaten an der Front an Langzeitfolgen mit sich bringen wird, lässt sich heute noch überhaupt nicht annähernd abschätzen."

Und natürlich entstehen daraus die unterschiedlichsten Traumata mit den unterschiedlichsten Auswirkungen, auch weil die Bedingungen, unter denen die Menschen geflüchtet sind, sehr verschieden waren. Viele sind ja aus den östlichen und südlichen Gebieten oder denen, die temporär besetzt waren, geflohen. Was die Kinder oder die Frauen dabei an Gräueltaten erlebt haben, ist nach menschlichem Ermessen nicht zu verarbeiten. Neulich erst sah ich ein kleines Mädchen bei uns im Konsulat bei jedem lauten Geräusch von draußen zusammenzucken, weil es in der Ukraine den Raketenbeschuss miterlebt hatte. Was der Krieg für die Zivilbevölkerung, aber auch die vielen Soldaten an der Front an Langzeitfolgen mit sich bringen wird, lässt sich heute noch überhaupt nicht annähernd abschätzen. Die Grausamkeit dieser Erlebnisse wird ein ganzes Volk nachhaltig prägen und die Menschen verändern.

Die Ukrainer stehen zusammen und wünschen sich einen gerechten Frieden / © Beatrice Tomasetti (DR)
Die Ukrainer stehen zusammen und wünschen sich einen gerechten Frieden / © Beatrice Tomasetti ( DR )

DOMRADIO.DE: In den letzten zwei Jahren sind zwischen einzelnen Städten und Kommunen Partnerschaften entstanden. Auf welche Weise können Sie von hier aus Ihr Land unterstützen? 

Shum: Bei Ausbruch des Krieges hat jeder an seinem Platz und nach seinen Möglichkeiten versucht, etwas zu tun: sowohl unsere zahlreichen Freunde und Partner hier in NRW als auch die Ukrainerinnen und Ukrainer, die in den ersten Kriegswochen in Deutschland angekommen sind. Dabei haben wir gemeinsam überlegt, wie sich effektive Hilfen am besten organisieren lassen. Von vielen Kommunen ging dann ziemlich schnell die Initiative aus, Städtepartnerschaften ins Leben zu rufen. Düsseldorf zum Beispiel hat gleich im März seine Verbindung zu Czernowitz im Westen des Landes, die schon vor dem Krieg bestand, vertieft und nun auch ganz offiziell den Rat der Stadt mit ins Boot geholt, um so seine Solidarität zu zeigen, ein Zeichen zu setzen und zum Ausdruck zu bringen: Wir stehen an der Seite der Ukraine. 

Auch in Köln war man sehr schnell oder in Bergisch Gladbach, wo es eine Partnerschaft mit Butscha gibt; der Stadt, in der die Russen Anfang April 2022 unter der Zivilbevölkerung ein regelrechtes Massaker angerichtet haben. Zu diesem Zeitpunkt waren Sachspenden dringend notwendig, weil mit einem Mal die wirtschaftlichen Beziehungen unterbrochen waren und es an allem Lebensnotwendigen fehlte. Russland blockierte schon bald den Zugang zum Schwarzen Meer, so dass wir unsere Haupthandelswege nicht mehr nutzen konnten. In dieser kritischen Situation war eine erste humanitäre Hilfe unglaublich wichtig.

Iryna Shum im Januar beim Internationalen Soldatengottesdienst im Kölner Dom / © Beatrice Tomasetti (DR)
Iryna Shum im Januar beim Internationalen Soldatengottesdienst im Kölner Dom / © Beatrice Tomasetti ( DR )

DOMRADIO.DE: Aber natürlich geht es nie nur um Hilfstransporte von SachgüternWas bedeuten solche Verbindungen zwischen den einzelnen Kommunen darüber hinaus?

Shum: Die Wiederbelebung des Formates Städtepartnerschaft spielt in diesen Kriegszeiten eine ganz wesentliche Rolle. Allein in NRW haben wir zurzeit 36 Städtepartnerschaften – 30 davon sind in den letzten zwei Jahren entstanden. Und das bedeutet nicht nur eine Unterschrift auf einer Urkunde, sondern lebendigen Austausch und Dialog. Das heißt, es geht um viel mehr als nur Sachspenden. Die Menschen interessieren sich füreinander und fragen nach: Wie geht es Ihnen? Wie sieht die Lage vor Ort aus? Was wird gebraucht? Es geht um Anteilnahme und Mitgefühl, das nicht nur über die Schiene Stadtverwaltung läuft; auch Krankenhäuser, Schulen, Vereine und Kultureinrichtungen, die zum Beispiel Künstler aus der Ukraine einladen, sind daran beteiligt. 

Das alles hat sich sehr schnell und mit großer Empathie entwickelt. Ich bin davon überzeugt, dass diese Städtepartnerschaften ein bedeutender Grundstein für die europäische Integration der Ukraine sind, weil die Menschen nun miteinander verflochten sind. Natürlich gibt es offizielle Kriterien, aber wenn tatsächlich Nähe entsteht und sich diese Verbundenheit dauerhaft weiterentwickelt, schaffen wir damit auf jeden Fall eine wichtige Basis für die Rückkehr der Ukraine in die europäische Familie.

Totengedenken für die Opfer des Krieges auf dem Friedhof (Erzdiözese Lwiw)
Totengedenken für die Opfer des Krieges auf dem Friedhof / ( Erzdiözese Lwiw )

DOMRADIO.DE: Propaganda spielt im Krieg immer eine große Rolle, vor allem um den Feind einzuschüchtern. Das gelingt zum Teil mit erschütternden Bildern und Nachrichten, wenn ich da nur an den ersten Angriff auf eine Geburtsklinik in Mariupol denke und die Behauptungen aus dem Kreml, die blutverschmierten Frauen mit ihren sterbenden Kindern seien allesamt Schauspielerinnen gewesen. Woher beziehen Sie persönlich Ihre Informationen? 

Iryna Shum

"Wir sind ein freies demokratisches Land, in dem Pressefreiheit herrscht und viele Medien wahrheitsgetreu und ausführlich über den Krieg berichten."

Shum: Russland verbreitet viele Fake News und nutzt dazu gezielt die sozialen Medien. Ich selbst lese vor allem Nachrichten, die direkt aus der Ukraine kommen. Wir sind ein freies demokratisches Land, in dem Pressefreiheit herrscht und viele Medien wahrheitsgetreu und ausführlich über den Krieg berichten. Natürlich verfolge ich auch die Berichterstattung der internationalen Presse – vor allem der britischen, der amerikanischen und besonders der deutschen – und fühle mich gut informiert. Nochmals: Für uns besteht der Krieg bereits seit zehn Jahren – von daher ist auch das Thema Kriegsberichterstattung kein neues – und wir haben in dieser Zeit erlebt, wie schnell die Wahrheit der Kriegspropaganda geopfert wird. In Russland herrscht die Souveränität der Lüge. Von daher ist für uns von großer Wichtigkeit, dass wir dem etwas entgegenzusetzen haben und wir unsererseits das Vertrauen unserer Partner genießen. Sowohl die ukrainischen Medien als auch unser Militär oder die offiziellen Kanäle verbreiten nur sehr präzise geprüfte Informationen.

Eine Hauptaufgabe von Bischof Hruza in Lwiw: Trauerfeiern für die Opfer und Trost spenden für die Hinterbliebenen (Erzdiözese Lwiw)
Eine Hauptaufgabe von Bischof Hruza in Lwiw: Trauerfeiern für die Opfer und Trost spenden für die Hinterbliebenen / ( Erzdiözese Lwiw )

DOMRADIO.DE: Dann werden Sie wissen, wie zurzeit die Stimmung im Land ist. Wie nehmen Sie das von Deutschland aus wahr?

Shum: An der Front ist die Lage schwierig, weil es nicht genug Munition gibt. Die ukrainische Armee befindet sich im Osten in der Defensive. Trotzdem, so hat eine aktuelle Umfrage zuletzt gezeigt, sind über 90 Prozent der Ukrainer nicht bereit, Russland gegenüber territoriale Konzessionen zu machen. Das ist im Westen vielleicht schwer nachzuvollziehen, weil die Prämisse, nach der solche Ergebnisse zustande kommen, eine gänzlich andere ist als das, was in der westlichen Welt und speziell in Deutschland als eine Kultur des Kompromisses gepflegt wird. 

Seit 2014 gab es mehrere Verhandlungsrunden ohne Ergebnis, und deswegen wissen die Ukrainer, dass man mit Russland nicht wirklich verhandeln kann. Die Russen werden diesen Krieg niemals stoppen, nur wenn sie selbst gestoppt werden. Anders wird es nicht gehen. Und darin besteht die Tragik dieser Situation, dass die Russen immer wieder vorgeben, verhandlungsbereit zu sein. Das aber ist nichts anderes als eines ihrer üblichen Täuschungsmanöver. Wir haben das acht Jahre lang erlebt, und deshalb glaubt ihnen niemand mehr. Das ist unsere bittere Erfahrung. Daher kann man auch keinem Ukrainer mehr vermitteln, dass mit den Russen ein Kompromiss ausgehandelt werden könnte.

Iryna Shum spricht beim Solidaritätskonzert der Dommusik im März 2022 / © Beatrice Tomasetti (DR)
Iryna Shum spricht beim Solidaritätskonzert der Dommusik im März 2022 / © Beatrice Tomasetti ( DR )

DOMRADIO.DE: Haben Sie dennoch die Hoffnung, dass Sie diesen Krieg noch zu Ihren Gunsten wenden können?

Shum: Diese Hoffnung ist immer da. Wir glauben aber, dass es im Moment nichts bringt, sich mit Russland an einen Tisch zu setzen. Im Gegenteil: Es würde eine vorübergehende Waffenruhe nur dazu nutzen, die Ukraine danach umso stärker anzugreifen. Denn das ist das, was die Russen in diesen letzten zehn Jahren immer wieder getan haben. Von daher macht es überhaupt keinen Sinn, auch nur ansatzweise Zugeständnisse zu machen oder die vage Hoffnung zu haben, es könne sich mit Verhandlungen auch nur minimal irgendetwas zum Guten ändern.

DOMRADIO.DE: In den deutschen Medien geht es viel um die Diskussion der Bereitstellung von Waffen, wozu sich die Bundesregierung gerade zu Beginn des Krieges nur sehr zögerlich durchringen konnte. Schließlich befürchtet Deutschland, sich mit bestimmten Waffenlieferungen wie dem Taurus-Marsch-Flugkörper, der ganz aktuell in der Diskussion ist, an einer weiteren Eskalation des Krieges zu beteiligen, wenn es mit deutschen Raketen zum Beschuss des russischen Territoriums kommen würde. Andererseits ist Deutschland inzwischen innerhalb der EU der wichtigste Unterstützer mit zweistelligen Milliardenhilfen geworden. Wie erleben Sie die deutsche Politik?

Iryna Shum

"Wir sehen, wie entschieden Deutschland mit seiner moralischen, wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung heute an der Seite der Ukraine steht."

Shum: Deutschland ist im Moment einer der größten Unterstützer der Ukraine. Wir haben gesehen, wie sich dieses Land positioniert hat und wie seine Hilfe über diese zwei Jahre immer mehr angewachsen ist. Die Ukrainerinnen und Ukrainer, die von Deutschland aufgenommen wurden – das sind immerhin eine Million Menschen – sind überaus dankbar für diese Unterstützung. Sie fühlen sich hier sicher und willkommen. Wir sehen, wie entschieden Deutschland mit seiner moralischen, wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung heute an der Seite der Ukraine steht.

In offizieller Mission: Die Generalkonsulin der Ukraine, Iryna Shum, mit Ministerpräsident Hendrik Wüst (Staatskanzlei NRW)
In offizieller Mission: Die Generalkonsulin der Ukraine, Iryna Shum, mit Ministerpräsident Hendrik Wüst / ( Staatskanzlei NRW )

DOMRADIO.DE: Immer wieder habe ich in den letzten Monaten auch mit ukrainischen Kirchenvertretern gesprochen, die sagen, dass viele Menschen, gerade auch Familien, die einen geliebten Angehörigen in diesem Krieg verloren haben, Halt im Glauben und in den vielen Gotteshäusern finden, die auch zu Zentren humanitärer Hilfe geworden sind. Woher nimmt das ukrainische Volk selbst nach zwei Jahren noch die Kraft, angesichts des scheint’s übermächtigen Gegners nicht zu resignieren?

Shum: Für die Ukrainer gibt es keine Alternative zur Freiheit. Wir wissen, was es bedeutet, unfrei zu sein. Unsere Elterngeneration erinnert sich noch an die Zeit in der Sowjetunion, als es keine Meinungs- oder Pressefreiheit gab und man einem Regime willkürlich ausgeliefert, unterworfen und kolonisiert war. In den letzten 30 Jahren hat die Ukraine alles unternommen, diese Unterjochung aufzuarbeiten. Ihre Werte neu definiert zu haben, ist das, was die Menschen heute prägt. Und der größte Wert für das ukrainische Volk ist seine Freiheit. Daraus schöpft es auch die immense Kraft, sich zu verteidigen und wieder eine regelbasierte Ordnung herzustellen. Hinzu kommt die absolute Überzeugung, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Es besteht keinerlei Zweifel daran, dass dieser russische Angriff völlig ungerechtfertig ist, in keinster Weise provoziert wurde und viele, viele unschuldige Opfer kostet. Wie viele Menschen wurden sinnlos ermordet! Das ist zutiefst unmenschlich und kann nie wieder ungeschehen gemacht werden. Es ist dieses Aufbegehren gegen eine maßlose Unmenschlichkeit, das den Menschen eine unermessliche Kraft gibt.

DOMRADIO.DE: Zuletzt hieß es immer wieder, der Ukraine gingen die Munition, aber auch die Soldaten aus. Dabei hängt der Ausgang des Krieges ja vor allem maßgeblich von den Menschen ab, die ihr Land verteidigen, von den internationalen Partnern und von schlagkräftigem Militärgerät. Haben Sie in diesem Ermüdungskrieg noch Hoffnung auf Frieden? 

Iryna Shum

"Wenn wir keine weitere Munition bekommen, Kampfflugzeuge oder Waffen zur Flugabwehr, gerät die Armee allerdings weiter in die Defensive."

Shum: Die Hoffnung stirbt zuletzt, heißt es. Darüber hinaus aber leben die Menschen in der Ukraine von der Gewissheit, schon viel erreicht zu haben, und von der Zuversicht, nicht nur bisher mutig widerstanden zu haben, sondern den Aggressor auch vertreiben zu können. Tatsache ist, dass die ukrainische Armee die Hälfte der seit dem 24. Februar 2022 von den Russen besetzten Gebiete befreit hat – was viele nicht wissen. So haben die Streitkräfte Charkiw befreit, Vororte von Kiew und Cherson. Was wir für die Befreiung anderer Städte brauchen – das sagt Präsident Selensky bei jeder Gelegenheit – ist noch mehr militärische Unterstützung. Wenn wir keine weitere Munition bekommen, Kampfflugzeuge oder Waffen zur Flugabwehr, gerät die Armee allerdings weiter in die Defensive. Die Lufthoheit zu stärken ist daher sehr, sehr wichtig. 

Natürlich brauchen unsere Soldaten auch eine Pause. Dafür wird nun gerade ein neues Gesetz zur Mobilmachung verabschiedet werden, das in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert wird. Gestärkt wird eine solche Vorlage von den besagten über 90 Prozent, die sich trotz der großen Opfer für die Souveränität des Staates und die Freiheit ihres Volkes aussprechen. 

Odessa: Wohnhäuser liegen nach Angriffen in Trümmern / © Uncredited (dpa)
Odessa: Wohnhäuser liegen nach Angriffen in Trümmern / © Uncredited ( dpa )

DOMRADIO.DE: Was ist Ihre persönliche Hoffnung?

Shum: Dass der Krieg bald vorbei ist und dass wir wieder einen gerechten und dauerhaften Frieden in unserem gemeinsamen Europa haben. Aber Voraussetzung dafür ist, dass der Aggressor zur Rechenschaft gezogen wird.

DOMRADIO.DE: Hat die Diplomatie in diesem Kontext noch eine Chance?

Shum: Die Diplomatie kommt immer als erstes in Spiel. Und von Berufs wegen – ich arbeite seit 15 Jahren für das ukrainische Außenministerium – stehe ich dafür, dass das der beste Weg für eine Konfliktlösung ist. Aber es gibt auch Situationen, in denen die Diplomatie an ihre Grenzen stößt. Danach allerdings, davon bin ich zutiefst überzeugt, kommen auch wieder andere Zeiten. 

Das Interview führte Beatrice Tomasetti.

Christliche Kirchen in der Ukraine

Die kirchlichen Verhältnisse in der Ukraine sind komplex. Rund 70 Prozent der 45 Millionen Ukrainer bekennen sich zum orthodoxen Christentum. Sie gehören allerdings zwei verschiedenen Kirchen an: der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche (UOK) des Moskauer Patriarchats und der autokephalen (eigenständigen) Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU). Zudem gibt es eine römisch-katholische Minderheit mit rund einer Million Mitgliedern sowie die mit Rom verbundene (unierte) griechisch-katholische Kirche der Ukraine.

Das Heilige Feuer aus Jerusalem am 18. April 2020 im Kiewer Höhlenkloster Petscherska Lawra, Hauptsitz der ukrainisch-orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchats. / © Sergey Korovayny (KNA)
Das Heilige Feuer aus Jerusalem am 18. April 2020 im Kiewer Höhlenkloster Petscherska Lawra, Hauptsitz der ukrainisch-orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchats. / © Sergey Korovayny ( KNA )
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DR