DOMRADIO.DE: Behandelt Europa die Flüchtlinge aus der Ukraine heute anders als die Flüchtlinge aus Syrien damals?
Dr. Sadiqu al-Mousllie (Vorsitzender der syrischen Opposition in Deutschland): Vorab möchte ich unsere uneingeschränkte Solidarität mit den Menschen in der Ukraine aussprechen und festhalten. Es darf auf keinen Fall der Eindruck entstehen, dass irgendeine Gruppe einer anderen hilfsbedürftigen Gruppe die Hilfe nicht gönnt.
Auf gesellschaftlicher und menschlicher Ebene war die Hilfsbereitschaft in Deutschland 2015 und auch heute im Jahr 2022 überwältigend. Und das für alle Menschen, die gekommen sind. Das ist etwas, worauf ich persönlich als Deutscher stolz bin. Aber das kann man nicht für ganz Europa behaupten. 2015 haben sich zum Beispiel schreckliche Szenen an der EU-Außengrenze abgespielt, die wir heute nicht haben.
Dieses Mal haben wir eine andere Willkommenskultur, auch auf europäischer Ebene. Vielleicht wegen der emotionalen Betroffenheit durch die geografische Nähe und auch wegen der Verbindung zwischen den Gesellschaften.
DOMRADIO.DE: Hat Deutschland oder auch die EU denn insgesamt gelernt, was die Aufnahme von Flüchtlingen angeht?
al-Mousllie: Ich hoffe, dass wir einiges gelernt haben. Zum Beispiel was Bürokratie angeht. Mit weniger Bürokratie kann man das Leben der Geflüchteten leichter machen. Zum Beispiel beim Thema Arbeitserlaubnis. Es ist schwer, Normalität zu erreichen, wenn es so viel Zeit braucht, bis die Leute einer Arbeit nachgehen dürfen.
Was mich überrascht hat, war das Aktivieren einer EU-Richtlinie von 2001, die den Flüchtlingen erlaubt, sich frei zu bewegen. Das erleichtert vieles, weil die Flüchtlinge nicht mehr an einen Ort gebunden sind. 2015 wurde diese EU-Richtlinie leider nicht aktiviert und das hat damals vielen Leuten das Leben schwer gemacht.
DOMRADIO.DE: Im Syrien-Krieg hat der Westen nur bedingt eingegriffen. Man befürchtete damals wie heute, dass es zu einem offenen Konflikt zwischen den USA und Russland kommen könnte. Muss sich das im Fall der Ukraine ändern?
al-Mousllie: Die Zurückhaltung der USA und der Wortbruch Obamas bezüglich der roten Linie beim Einsatz von Chemiewaffen ist für die Europäer und Deutschland eine verpasste Chance. Damals hätte es Möglichkeit und Gelegenheit gegeben, Putin Einhalt zu gebieten. Man hätte Putin klarmachen können: Bis dahin und nicht weiter.
Rückblickend müssen wir sagen, es geht dabei um Schadensbegrenzung. Das heißt für mich, dass wir den Widerstand der Ukraine maximal unterstützen sollten, damit sie Putin und seine Truppen länger aufhalten können. Nur so können wir Putin vielleicht dazu bringen, an den Verhandlungstisch zu kommen.
DOMRADIO.DE: Spielen Religionsgemeinschaften bei solchen Konflikten eine Rolle? Sollten sie da mehr an einem Strang ziehen, wenn die weltliche Macht gegeneinander antritt?
al-Mousllie: Absolut. Ich glaube, dass gerade die Religionsgemeinschaften jetzt in der Lage sind, Frieden zu stiften. Wir sehen das auch in der Ukraine, wo sich die unterschiedlichen Religionsgemeinschaften gemeinsam für den Frieden einsetzen. Die ukrainische Bevölkerung ist vielfältig. Christen, Juden und Muslime kämpfen zusammen gegen die Aggression von außen und arbeiten am Frieden.
Das gilt es zu unterstützen. Leider haben wir als Europäer in der Vergangenheit beim Umgang mit Autokraten und Diktatoren wie Putin und Assad versagt.
Das Interview führte Michelle Ollion.