Das regierungskritische Portal "El Nacional" analysierte vor einigen Tagen die aktuelle Lage in Venezuela verblüffend einfach: Der Vatikan setzt die Interimsregierung schachmatt. Gemeint ist der Einfluss von Papst Franziskus auf die politischen Entwicklungen in dem südamerikanischen Krisenland.
Die Begnadigung politischer Gefangener, die Kehrtwende eines der prominentesten venezolanischen Oppositionsführer und der Aufruf der Bischöfe zur Teilnahme an den Parlamentswahlen sind Überraschungen, die in den vergangenen Tagen und Wochen in der Tat für Aufsehen sorgten.
Treffen mit UN-Menschenrechtskommissarin Michele Bachelet
Interessant sind dabei einige Personalien und persönliche Treffen. Mitte August empfing Papst Franziskus die UN-Menschenrechtskommissarin Michele Bachelet. Wie meist bei solchen Anlässen wurde über den Inhalt der Gespräche kaum etwas bekannt. Doch die Tageszeitung "La Nacion" aus der argentinischen Heimat des Papstes schrieb damals, Venezuela sei ein wichtiges Thema der Unterredung gewesen.
Die ehemalige chilenische Präsidentin Bachelet ist eine der internationalen Schlüsselfiguren bei der Bewertung der Lage in Venezuela. In ihren Berichten sind schwere Menschenrechtsverletzungen wie außergerichtliche Hinrichtungen und Folter dokumentiert. Fast zeitgleich erklärte die Europäische Union, dass die anstehenden Wahlen nicht die erforderlichen Rahmenbedingungen erfüllen werden. Sie seien weder frei noch fair noch transparent.
Aufruf zur Wahl von Venezolanischer Bischofskonferenz
Zugleich rief die Venezolanische Bischofskonferenz dennoch zur Teilnahme an den Parlamentswahlen am 6. Dezember auf. Das überraschte, denn damals hatte ein großer Teil der Opposition angekündigt, die Wahlen zu boykottieren. Allerdings war der Aufruf der Bischöfe begleitet von klarer Kritik an der Regierung. Die Menschen sollten teilnehmen in der Hoffnung, "die totalitären Versuche und die Vorteilsnahme vonseiten der Regierung" zu überwinden.
Wer will, konnte daraus den Versuch lesen, der Opposition eine Brücke zu bauen, ihren Boykott noch einmal zu überdenken. Die Bischöfe bekräftigten zugleich ihre Kritik an der Zusammenstellung des mit Regierungsvertretern besetzten Wahlrates CNE, an der Nichtzulassung einiger Parteien und Politiker, der Bedrohung, Verfolgung und Inhaftierung von Kandidaten.
Dann ging plötzlich alles ganz schnell: Venezuelas sozialistischer Präsident Nicolas Maduro gab die Begnadigung von 110 politischen Gefangenen bekannt; UN-Menschenrechtskommissarin Bachelet begrüßte den Schritt und der ehemalige Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles scherte aus dem Block der Wahlboykottierer aus.
Interims-Präsident Juan Guaido schien ebenso wie andere Teile der Opposition überrascht. Er will nun eine Volksbefragung durchführen, während Capriles auf die Parlamentswahlen setzt, vorausgesetzt dass unabhängige Beobachter aus Europa den Urnengang überwachen. Das ist aber angesichts der Corona-Pandemie eher unwahrscheinlich.
Kräfte hinter den Kulissen
Für die These, dass Franziskus hinter den Kulissen an der neuen Entwicklung mitwirkte, sprechen vor allem seine exzellenten Kontakte nach Venezuela: Der Jesuiten-General, Artruro Sosa, ein wichtiger Papstvertrauter, stammt aus Venezuela und äußerte sich immer wieder zur jahrelangen politischen und wirtschaftlichen Krise im Land. Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin, die Nummer zwei des Vatikan, war 2009 bis 2013 selbst Nuntius in Venezuela und kennt die meisten politischen Beteiligten aus eigenen Gesprächen.
Und auch der argentinische Kardinal Leonardo Sandri, der als einer der einflussreichsten Männer im Kardinalskollegium gilt, war ebenfalls jahrelang Nuntius in Venezuela und erlebte um den Jahrtausendwechsel vor Ort den Beginn der Ära Hugo Chavez mit.
Für die Tageszeitung "El Nacional" ist die aktuelle Entwicklung ein Gemeinschaftswerk verschiedener Kräfte. Auf internationaler Ebene seien dies der Vatikan, Bachelet, der EU-Außenbeauftragte Josep Borrel, die spanische Regierung von Pedro Sanchez sowie die Puebla-Gruppe, ein Forum linksgerichteter Kräfte aus ganz Lateinamerika. Auf nationaler Ebene sehen die Beobachter die Bischofskonferenz und Henrique Capriles als wichtige Strippenzieher. Von Guaido redet indes niemand mehr.