DOMRADIO.DE: Worum genau geht es in dem aktuellen Konflikt in Nicaragua?
Inés Klissenbauer (Referentin für Mittelamerika beim Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat): In Nicaragua protestieren im Moment sehr, sehr viele Menschen für den sofortigen Rücktritt des Präsidenten und für vorgezogene Neuwahlen im nächsten Jahr. Das geschieht aufgrund der ersten friedlichen Proteste vom 18. April, als sich Studenten und auch ältere Menschen gegen die einseitig beschlossene Rentenreform des Präsidenten wehrten. Dieser Protest wurde blutig niedergeschlagen. Es gab Tote. Das hat das ganze Land empört. Es kam danach zu Protesten im ganzen Land.
DOMRADIO.DE: Also Proteste gegen Rentenkürzungen, die sich zu Protesten gegen die Regierung ausgewachsen haben. Warum jetzt diese Eskalation?
Klissenbauer: Mit dieser Eskalation hat niemand gerechnet. Sie ist darauf zurückzuführen, dass sich das Land während elf Jahren Regierungszeit Daniel Ortegas immer mehr in eine autoritäre Familiendynastie entwickelt hat.
Demokratische Rechte wurden immer mehr außer Kraft gesetzt. Die Verfassung zur erneuten Wiederwahl des Präsidenten wurde geändert. Zudem wurden Proteste auch immer wieder zerschlagen. Es gab zwar keine Toten, aber die Repression hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Kurz vor den Protesten gab es einen Brand im Biosphärenreservat Indio Maiz, wo die Regierung untätig blieb. Das hat vor allem die Studierenden auf die Barrikaden gebracht. Man kann sagen, dass sich mit diesem Protest der ganze Frust und die Unzufriedenheit der vergangenen Jahre ausgedrückt hat.
DOMRADIO.DE: Geistliche und Bischöfe sind jetzt auch angegriffen worden. Der Weihbischof von Managua spricht von einer Kirche, die verfolgt wird. Warum diese Wut des Regimes gegen die katholische Kirche?
Klissenbauer: Die katholische Kirche hat sich sehr früh auf die Seite der Protestierenden gestellt. Sie hat gesagt, dass hier unschuldige Menschen, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung kundtun, angegriffen, verfolgt und gefoltert werden. Sie hat ihre Kirchen als Schutzräume für Verfolgte und verwundete Menschen angeboten und ist dabei selber in den Fokus der Regierung geraten.
DOMRADIO.DE: Daniel Ortega war 1979 am Sturz des damaligen Diktators Somoza beteiligt. Seine linke Guerilla hatte nach dem Sturz durchaus sozialpolitische Ziele. Was ist passiert, dass sich Ortega so gewandelt hat und jetzt mit Waffen gegen sein eigenes Volk vorgeht?
Klissenbauer: Dies war ein schleichender Prozess, wie man ihn leider in vielen Ländern auch beobachten kann. Es ist der Machterhalt, der zwingende Kampf um den Machterhalt und die Nicht-Bereitschaft, auf das Volk zu hören. Er nennt sich El Presidente del Pueblo (Präsident des Volkes, Anm. d. Red.), aber er vertritt einen großen Teil des Volkes nicht mehr, sondern baut seine Macht aus. Und dagegen protestieren viele Menschen.
DOMRADIO.DE: Ist denn jetzt irgendeine Lösung des Konflikts in Sicht. Könnte da noch jemand vermitteln?
Klissenbauer: Die Kirche, die ja immer wieder zur Vermittlung aufgerufen hat oder auch eine Vermittlerrolle inne hatte, ruft nach wie vor zum Dialog auf und hält auch den Dialog für die einzige Möglichkeit - wie auch die internationale Gemeinschaft in ihren Bekundungen sagt. Ohne Dialog taucht das Land weiter in die Gewaltspirale ein. Es muss einen Dialog geben. Es wird auf Dialog gehofft, auf Vermittlung vielleicht auch aus dem Ausland. Da gibt es verschiedene Überlegungen und Ansätze. Aber alle hoffen, dass es nicht zum Bürgerkrieg in dem Land kommt, sondern dass eine Lösung im Gespräch gefunden wird.
Das Interview führte Hilde Regeniter.