DOMRADIO.DE: Sie schreiben: "Zeitlebens fragte ich mich, was würde Jesus heute von uns erwarten?" Glauben Sie, dass Jesus von Ihnen im Herbst 2022 erwartet, dass Sie sich auf Straßen festkleben?
Alt: Wir wissen schon seit Jahrzehnten, dass Klimakrise und Artensterben ein Problem sind. Aber es tut sich nicht genug. Auf der anderen Seite wird immer deutlicher, dass die Kipp-Punkte näherkommen, also die Elemente, die es uns verunmöglichen würden, noch Kontrolle über die Entwicklung zu behalten. Und dieser knapper werdende Handlungsspielraum zwingt uns jetzt, einen Gang zuzuschalten, damit wir überhaupt noch rechtzeitig etwas bewegen können.
DOMRADIO.DE: Sie schreiben auch: "Würden alle Menschen wie die Deutschen leben, bräuchten wir drei Planeten." Das wissen wir alle. Aber wir handeln nicht so. Anders die Gruppe ´Letzte Generation´ mit ihrem Hungerstreik vor der Bundestagswahl. Hat Sie das so besonders bewegt, weil es junge Menschen sind, die noch ein langes Leben vor sich haben und genau dieses Leben real in die Waagschale werfen?
Alt: Im Prinzip haben die jungen Menschen sich für dieselben Themen eingesetzt, wie ich in den letzten 40 Jahren. Wenn man sagt: Ich hungere so lange, bis die Forderung erfüllt ist, dann ist das eine Radikalität, bei der ich mir dann sagen musste: Warum machst du das eigentlich nicht? Ich habe jeden Tag mit diesen jungen Menschen telefoniert. Ich habe mitbekommen, wie sie immer schwächer wurden. Ich habe mitbekommen, dass einer von diesen jungen Menschen beinahe gestorben wäre, wenn nicht rechtzeitig noch der Anruf von Olaf Scholz gekommen wäre. Das ist mir so unter die Haut gegangen, dass ich gesagt habe: Da kann ich nicht mehr die klassischen Methoden weiterverfolgen, die ja doch nichts bringen. Ich muss mich hier einreihen.
Ich bin ja die ganze Zeit davon ausgegangen, dass der Hungerstreik nur solange geht, bis der Bundestagswahlkampf endet. Als Henning Jeschke mir gesagt hat, dass er erst wieder anfängt zu essen, wenn der Kanzlerkandidat der SPD das Gesprächsangebot zusagt, ist mir klar geworden, dass Henning Jeschke bereit ist, zu sterben. Das war dann der Punkt, den dem meine Überlegungen in Gang gekommen sind, mich an Akten von zivilem Ungehorsam und zivilem Widerstand zu beteiligen. Zunächst ist es das Containern geworden, die Frage nach den Lebensmitteln. Das war natürlich eine glückliche Fügung, weil genau dieses Thema für Papst Franziskus auch schon seit vielen Jahren ein Dorn im Auge ist.
DOMRADIO.DE: Mittlerweile haben Sie sich auch an die Straße mit angeklebt. Das schafft eine enorme Aufmerksamkeit. Wenn Sie sich mit Containern selber anzeigen, also zum Straftäter machen, wenn Sie sich mit ankleben auf einen Autobahnzubringer: Was ist Ihre Hoffnung?
Alt: Man muss bedenken, warum ich das mache. Ich tue es nicht nur wegen der jungen Aktivisten in Deutschland, sondern ich mache es auch aufgrund unserer Projektpartner in den armen Ländern. Ich arbeite für "jesuiten weltweit", das ist die Entwicklungshilfeorganisation des Jesuitenordens in der zentraleuropäischen Provinz. Unsere Projektpartner signalisieren uns immer wieder, dass der globale Norden viel zu wenig tut, um der Klimakatastrophe Herr zu werden. Dabei haben wir sie verursacht. Wir haben das Geld, wir haben die Mittel. Wir könnten etwas tun. Es war für mich ein Aha-Erlebnis, als sich die "letzte Generation" erstmals auf die Autobahn geklebt hat. Als ich noch gesagt habe, das könnte mehr Schaden als Nutzen bringen, haben das Projektpartner aus dem globalen Süden bejubelt und uns gesagt: Endlich unternimmt jemand etwas bei euch im globalen Norden, um eine Disruption, eine Störung zu schaffen, die der Klimawandel bei uns fast jeden Tag verursacht. Dass junge Menschen bereit sind, in Deutschland erfahrbar zu machen, dass Klimawandel eben nicht nur einfach wärmere, angenehmere Temperaturen bedeutet, sondern tatsächlich unser alltägliches Leben durcheinanderbringen kann. Diese Botschaft bringe ich natürlich als Priester, als Ordensmann, als Jesuit auch noch mal in die Debatte ein. Das ist ein Aspekt, den die jungen Aktivisten alleine so nicht platzieren könnten.
DOMRADIO.DE: Als Sie sich in der Schule gefragt haben, was Sie beruflich machen möchten kam dabei irgendwas mit Philosophie, Theologie, Politik und Journalismus heraus. Von heute aus betrachtet hat das ziemlich gut geklappt, oder?
Alt: Eine meiner Lebenserfahrungen ist: Gott schreibt auf krummen Linien gerade. Der Mensch kann viele Wünsche haben, aber sie werden oft nicht so erfüllt, wie man sich das selber vorstellt. Man geht manchmal verschlungene Wege, aber im Rückblick zeigt sich dann doch, dass vieles von dem, was man eigentlich beabsichtigt hatte, in Erfüllung gegangen ist, wenn auch auf ganz andere Art und Weise. Ich habe diese vier Fächer als Interessengebiete gehabt, habe ursprünglich gedacht, ich muss Professor werden, um mich über Politikberatung und viel Schreiberei zu verwirklichen. Es ist ganz anders gekommen. Ich war Teil einer deutschen Regierungsdelegation bei den Landminen. Ich habe sehr viel publiziert und geschrieben. Ich habe auch sehr viel Einfluss auf politische Prozesse genommen, aber eben auf eine ganz andere Art und Weise, als ich ursprünglich gedacht habe.
DOMRADIO.DE: Sie haben in den letzten vier Jahrzehnten unglaublich viel getan und veröffentlicht. Sie sind Seelsorger und Priester. Sie haben ihre Lebenskraft Menschen in der Illegalität gewidmet. Sie haben sich mit Finanz- und Steuergerechtigkeit respektive schreiender Ungerechtigkeit beschäftigt. Jetzt ist es die Klimakatastrophe, der Klimawandel. Ist das Oberthema über diesen konkreten Themen die Gerechtigkeit?
Alt: Die Verbindung von Glaube und Gerechtigkeit ist interessant und deckt sich mit dem, was ich will. Und so wurde eigentlich in meinem Noviziat schon ein Same dessen gelegt, was sich letzten Endes in meinem Leben bis heute entfaltet hat.
DOMRADIO.DE: Sie haben eine Trilogie in drei Teilen veröffentlicht: "Handelt!", "Einfach anfangen!", und "Widerstand!". Was wollen Sie damit erreichen?
Alt: Ich habe die Bücher auf Bitten von "Fridays for Future" geschrieben, weil sie mich gefragt haben: Was denkt ihr als Kirche eigentlich über die Probleme, die uns als junge Menschen beschäftigen? Und was könnt ihr in diesen Kampf einbringen als Kirche? Da musste ich etwas dazu schreiben, was die katholische Soziallehre bietet. Denn das ist das Instrumentarium, was die Kirche uns an die Hand gibt, wenn es um gesellschaftliche Verantwortung geht. Es gibt die Individualethik, das, was jeder Einzelne tun kann. Aber es gibt auch den Punkt, an dem wir als Gesellschaft etwas ändern müssen, weil individuelle Verhaltensänderungen nicht ausreichen. Wir müssen auch an die großen Schalthebel gehen, wenn wir mit Klimawandel, Artensterben und Finanzkapitalismus zurande kommen wollen.
DOMRADIO.DE: Sie sagen: Das Wichtigste, was wir brauchen, ist ein neues Narrativ, eine neue Erzählung. Warum brauchen wir eine neue große Metaerzählung?
Alt: 40 Jahre lang haben wir eingeredet bekommen, dass Lebensglück und Lebenszufriedenheit damit zusammenhängen, wie viel Geld wir verdienen, was wir uns leisten können und was wir uns kaufen können. Das ist schlicht und ergreifend nicht wahr. Wenn man Menschen fragt, was ihnen wichtig ist, dann kommt immer: Familie, Freunde, eine sichere Stadt, intakte Umwelt, Gesundheit. Also alles Dinge, die man nicht kaufen und einsperren kann, die aber sehr viel mit Gesellschaft und zwischenmenschlicher Interaktion zu tun haben. Wir müssen uns klar machen, was ein Menschenleben zufrieden und glücklich macht. Wenn wir uns das in Erinnerung rufen, dann können wir auch entschlossen gegen das Wachstumsparadigma angehen, das uns suggeriert: Uns geht es als Gesellschaft nur dann gut, wenn die Wirtschaft wächst. Das ist Blödsinn. Wir steuern zwar auf eine Katastrophe zu, aber wir haben es in der Hand, eine Welt zu schaffen, die mindestens gleich gut, vielleicht sogar noch besser ist als das, was wir im Moment haben und als selbstverständlich betrachten.
DOMRADIO.DE: Wie kann man diese Geschichte neu erzählen? Es ist ja fast schon ein religiöser Glaube, dass wir Wachstum brauchen. Gibt es eine genau so starke Erzählung, die sagt: Nein, es geht anders?
Alt: Letzten Endes muss jeder sich diese Erzählung selber schreiben. Aber wir müssen zum Beispiel ganz klar benennen, wer die Guten und die Bösen in dieser Geschichte sind. Im Moment wird ja immer deutlicher, dass die Profiteure des aktuellen Systems, Finanzkapitalismus und fossile Konzerne die absolut Bösen sind, weil sie das Überleben der Menschheit bedrohen und trotzdem immer noch weiter Geschäfte machen und staatliche Subventionen abgreifen wollen.
Die Guten sind all jene, die sich dagegenstemmen und dagegen zur Wehr setzen. Viele zucken zusammen, wenn man in dieser klaren Sprache spricht. Aber so ist es nun mal und das kann man begründen. Gerade bei fossilen Konzernen kommen ja mehr und mehr Studien zum Vorschein, die belegen, wie diese Konzerne die Öffentlichkeit jahrzehntelang belogen haben. Obwohl sie selbst Klimawissenschaftler eingestellt haben, die ihnen gesagt haben: Wenn ihr so weitermacht, untergrabt ihr euer eigenes Geschäftsmodell. Aber die nächste Quartalsbilanz ist ihnen wichtiger als das Überleben der Menschheit. In dieser Drastik kann man der Öffentlichkeit vermitteln, warum wir im Moment am Abgrund stehen, und was uns helfen kann, nochmal einen Schritt zurückzutreten und Alternativen umzusetzen.
Man sollte Dinge tun, bei denen man ein Plus für sich selber entdecken kann. Wer vegetarisch isst, lebt gesünder. Wenn man das nicht spürt, dann kann man natürlich sagen, das schmeckt mir nicht. Aber wenn man wirklich länger vegetarisch lebt, dann entdeckt man, dass es einem besser geht und dass man viele Probleme nicht mehr hat. Oder wenn man eben das Auto stehen lässt und Fahrrad fährt, dann schläft man nachts viel besser. Es ist nicht so, dass Deutschland auf einmal in die Steinzeit zurückgebombt würde, wenn wir jetzt die sozialökologische Transformation anfingen. Wir haben nach wie vor ein Leben, das gut ist und das uns glücklich machen kann.
DOMRADIO.DE: Sind heute genug Menschen bereit, entschlossen zu handeln, weil sie sich nicht mehr abfinden wollen?
Alt: Das weiß man immer erst im Rückblick, ob es geklappt hat oder nicht. Ich kann mich fragen: Was muss ich heute tun, damit ich abends immer noch in den Spiegel gucken kann und sicher sein kann, dass ich den Tag sinnvoll verbracht habe. Ein Spruch von meinem Freund Henning Jeschke geht mir da immer wieder durch den Kopf: "Wir sind nicht dazu da, geliebt zu werden, sondern wir sind dazu da, das Richtige zu machen, weil es sonst keiner tut." Das ist auch eine gewisse Verantwortung, sich immer wieder zu fragen, ob das, was ich tue, tatsächlich alternativlos ist. Für mich ist die Zeit des zivilen Widerstands gekommen, weil ich so gut wie kein anderer sagen kann: Ich habe 40 Jahre lang andere Mittel versucht und angewendet, und wir sehen ja, was daraus geworden ist.
Am Ende meiner Vorträge herrscht meistens ein betroffenes Schweigen, sogar ein erschüttertes Schweigen. Bei vielen Menschen geht das Nachdenken erst dann los, wenn man auseinandergegangen ist. Es führt kein Weg daran vorbei zu sagen: Wir haben nur noch drei Jahre Zeit, bis die Treibhausemissionen sinken müssen. Das ist die Zeit, die die Wissenschaft uns nennt, das ist die Schwelle, an der es gefährlich wird, an der uns die Entwicklungen entgleiten könnten.
DOMRADIO.DE: Sie sagen in all dem noch einen Satz: "Gott hat immer noch ein Ass im Ärmel." Wie meinen Sie das?
Alt: Der Satz "Gott schreibt auf krummen Linien gerade" ist für mich sehr wichtig geworden, weil ich an entscheidenden Weggabelungen immer wieder feststellen konnte: Wenn es ein positives Ergebnis gab, war es nicht mir zu verdanken, sondern irgendwelchen überraschenden und unvorhersehbaren Ereignissen, mit denen ich gar nicht gerechnet hatte oder die ich gar nicht im Blick hatte.
Zum Beispiel Henning Jeschke: Ich habe am 25. September 2022 nicht mehr damit gerechnet, dass Olaf Scholz anruft. Ich habe damit gerechnet, dass Henning sterben wird. Und dann rief Olaf Scholz kurz vor knapp an und Henning konnte auf die Intensivstation gebracht werden. Es gibt Punkte, an denen ich immer wieder feststelle: Es gibt jemanden im Hintergrund, der uns entgegenarbeitet und uns immer wieder positiv überraschen kann. Insofern hoffe ich auch bei der Klimakrise, dass der liebe Gott die Dummheit der Menschen eingepreist hat und vielleicht doch irgendwo noch ein paar Sicherungen hat, von denen wir nichts wissen.
Das Interview führte Angela Krumpen. Dies ist ein Auszug aus der Sendung "Menschen".