DOMRADIO.DE: Ganze 160 Seiten lang sind die Empfehlungen des Deutschen Ethikrates. Was ist denn eine zentrale Lehre aus der Corona-Pandemie?
Andreas Lob-Hüdepohl (Theologe und Sozialethiker): Eine zentrale Lehre daraus ist, dass wir viel genauer gucken müssen, welche langfristigen Folgen bestimmte Schutzmaßnahmen haben.
Kurzfristig mögen Maßnahmen der sozialen Isolation greifen, auch noch verkraftbar sein für die betroffenen Menschen, die beispielsweise in Einrichtungen der Altenpflege oder in Kitas oder in Schulen leben und dort auch arbeiten beziehungsweise lernen müssen.
Mittel- und langfristig sind allerdings bestimmte Maßnahmen unerträglich für die davon Betroffenen.
Da lautet das Stichwort Resilienz, also Widerstandskraft. Wir müssen Institutionen der Daseinsvorsorge krisenfest machen, denn solche sind beispielsweise Schulen, Kitas oder Senioreneinrichtungen. Das heißt, sie müssen anpassungsfähig gegenüber den Herausforderungen einer Pandemie sein.
Die müssen auch Hygiene-Schutzmaßnahmen ergreifen können, ohne aber die elementaren Funktionen einzubüßen. Das heißt, dass das Zusammenleben innerhalb einer Alteneinrichtung etwa nach wie vor funktioniert. Das kann man durch kleinere Einheiten und dergleichen machen. Das ist eine Kernbotschaft: Stärkung der Abwehrkraft von Institutionen. Wir nennen das Resilienz.
DOMRADIO.DE: Ist denn die Bundesregierung in den letzten zwei Jahren gut mit ihrer Politik gefahren oder hätten Sie Kritikpunkte?
Lob-Hüdepohl: Wir haben uns nicht mit einzelnen Maßnahmen der Bundesregierung auseinandergesetzt. Da steht uns auch als Ethikrat nicht zu, sondern wir haben den Fokus auf Lernprozesse der Gesamtgesellschaft gelegt. Da würde ich schon tatsächlich sagen, dass wir die Langfristigkeit einer solchen Pandemie nicht eingeschätzt haben. Ich nicht, der Ethikrat und viele andere vermutlich auch nicht, als vor zwei Jahren die Pandemie begann.
Niemand hätte sich damals vorstellen können, dass wir nach zwei Jahren immer noch voll in einer solchen Pandemie stecken. Kein Mensch hat das für möglich gehalten. Das müssen wir allerdings lernen, dass solche unvorhergesehenen Pandemien solche Dimensionen annehmen können.
Insofern müssen wir viel früher darüber nachdenken, welche Güterabwägung wir zwischen Gesundheitsschutz auf der einen Seite und den nachteiligen Effekten einer solchen Gesundheitspolitik auf der anderen Seite zeitigen.
Das ist auch gesundheitlich relevant. Die Versorgungsketten, die über eine lange Zeit in Therapien oder in rehabilitierenden Einrichtungen und dergleichen weggebrochen sind, sind gesundheitsrelevant.
Das muss viel stärker von Anfang an in den Blick genommen werden. Dazu haben wir jetzt Empfehlungen vorgelegt, bestimmte Kriterien noch mal besser als vor zwei Jahren zu berücksichtigen.
DOMRADIO.DE: Gegner der Corona-Politik sind immer wieder auf die Straße gegangen, haben kritisiert, dass sie sich ihrer individuellen Freiheit beraubt sahen. Wie bewerten Sie das?
Lob-Hüdepohl: Sie müssen und sollten erkennen, dass die individuelle Freiheit von uns allen, nicht nur ihre individuelle Freiheit, sondern auch unsere individuelle Freiheit, von einem funktionierenden Gesundheitswesen abhängt.
Wir sprechen von freiheitssichernden und freiheitsermöglichenden Maßnahmen, die die individuelle Freiheit von uns allen gewährleisten. Diejenigen, die jetzt durch die Freiheit, nicht mehr Maske zu tragen zu müssen, sich weil sie Angst haben selbst daran hindern, sich beispielsweise in Restaurants oder im öffentlichen Raum anzustecken, dann ist das auch eine individuelle Freiheit, die jetzt beschränkt wird.
Die Freiheit ist nicht nur eine Freiheit von äußeren Restriktionen, sondern die Freiheit ist auch eine Freiheit von inneren Restriktionen. Angst um sich selber und dergleichen hat auch einen freiheitsbeschränkenden Effekt. Die Freiheit muss also nicht nur in Bewegungsfreiheiten gemessen werden, sondern die Freiheit muss in ihren gesamten Zusammenhängen gesehen werden.
Wir sprechen auch von sogenannter kommunikativer Freiheit, also einer Freiheit, die sich eines geordneten Zusammenlebens verdankt. Das ist ganz wichtig. Das sollte man auch den Gegnern der Maßnahmen sagen. Ihr Protest ist ein Ausdruck der individuellen Freiheit und die ist ja nicht beschränkt gewesen. Aus guten Gründen, finde ich.
DOMRADIO.DE: Am Donnerstag gibt es eine Impfpflicht-Debatte im Bundestag. Haben Sie eine klare Haltung zur Impfpflicht?
Lob-Hüdepohl: Ich persönlich, ja. Das ist auch im Deutschen Ethikrat dokumentiert. Ich bin für eine allgemeine gesetzliche Impfpflicht ab 18 Jahren. Wir müssen endlich vor die Pandemie kommen. Das heißt, wir müssen auch präventive Maßnahmen treffen. Impfen ist immer eine präventive Maßnahme und ich meine, wir sollten uns durch die derzeitige Omikron-Variante nicht nur relativ sicher wähnen. Wenn die bliebe, wäre in der Tat eine Impfpflicht vielleicht nicht mehr zu begründen.
Aber wir müssen damit rechnen - wie wir es auch in den letzten Monaten gesehen haben -, dass immer wieder neue Varianten aufkommen können, die dann unser Gesundheitssystem und unser Zusammenleben viel gravierender belasten.
Um das tatsächlich auch mal zu unterbinden oder zumindest die Wahrscheinlichkeit zurückzudrängen, halte ich eine allgemeine gesetzliche Impfpflicht für notwendig. Die ab 18 Jahren wird vermutlich nicht kommen, vielleicht wenigstens ab 50 Jahren. Damit wäre ich schon halbwegs zufrieden.
Das Interview führte Julia Reck.