DOMRADIO.DE: Seit Sommer 2022 gehören Sie der Internationalen Seelsorge im Erzbistum Köln an und sind für Ihre ukrainischen Landsleute in Deutschland Ansprechpartner. Erinnern Sie sich noch, wo Sie waren, als Sie am 24. Februar 2022 vom Ausbruch des Krieges erfuhren?
Vater Hennadii Aronovych (Priester der ukrainisch griechisch-katholischen Kirche): Ich hatte in der Ukraine gerade meinen Vater beerdigt und war auf dem Weg zurück nach Eichstätt, wo ich zu diesem Zeitpunkt noch im Collegium Orientale, einem ostkirchlichen Priesterseminar der Diözese gelebt habe und am Lehrstuhl für Theologie des Christlichen Ostens angestellt war. Als es dann am Morgen des 24. Februar hieß, der Krieg sei ausgebrochen, war ich zunächst fassungslos, habe dann ins Internet geschaut und konnte nicht glauben, was ich da sah. Meine erste Reaktion war, meine Verwandten anzurufen, weil bereits zu diesem Zeitpunkt auch Städte in der Westukraine bombardiert wurden – selbst in dem Gebiet um Lwiv, woher ich stamme. Zum Glück war niemand von ihnen verletzt.
Zurück im Seminar fühlte ich mich dann wie in einer Art Schockstarre. Wie viele andere meiner ukrainischen Mitbrüder auch war ich völlig regungslos, konnte nichts essen, habe ständig nur Nachrichten gelesen. Dann haben wir ganz schnell begonnen, zusammen mit der Katholischen Universität Sachspenden und haltbare Lebensmittel zu sammeln, um humanitäre Hilfe für die Ukraine und auch erste Hilfstransporte gemeinsam mit den Maltesern zu organisieren. Später erst stellte sich heraus, dass es Teil der russischen Taktik war, die Ukraine im Osten und im Westen zeitgleich anzugreifen, um das ganze Land unter Schock zu setzen – auch weil niemand einen Angriff auf westukrainische Städte in dieser ersten Phase für möglich gehalten hätte. Dass sich alle wie gelähmt und hilflos fühlten, war bewusst kalkuliert. Und diese Strategie ist ja dann auch aufgegangen.
DOMRADIO.DE: Der russische Angriffskrieg sorgt inzwischen für viele traumatisierte Menschen, die vor ständigem Beschuss und den Raketenangriffen geflüchtet sind. Welche Bedeutung kommt da der Kirche in der Ukraine, aber auch hier in Deutschland zu? Was erhoffen sich die Menschen von ihr, die alles verloren haben?
Aronovych: Die Kirchen in der Ukraine sind vor allem Orte des Gebets und sie sind voll mit Menschen, die Trost suchen. Wir alle kennen die Bilder aus Mariupol, Butscha und Irpin und haben gesehen, mit welcher Grausamkeit die Russen dort vorgegangen sind. Von Anfang an war daher den Priestern dort sehr wichtig, bei den Menschen auszuharren trotz der großen Gefahr und des unglaublichen Ausmaßes an Zerstörung und hemmungsloser Gewalt. Sie haben gesagt: Wir bleiben bei unseren Gläubigen, selbst wenn es das eigene Leben kostet. Dabei ging es ihnen nicht um Widerstand, sondern um den Beistand für ihre Landsleute, um mit ihnen zu beten und Messe zu feiern. Bis heute fehlt von zweien meiner Mitbrüdern, den Redemptoristen-Patres Iwan Lewyzkij und Bohdan Heleta, die von den Russen erst inhaftiert und dann nach Russland verschleppt wurden, jede Spur. Wir wissen nicht einmal, ob sie noch leben oder ihren Mut längst mit dem Leben bezahlt haben.
Auch im Erzbistum Köln sind die Kirchen für die ukrainischen Gläubigen Versammlungsorte zum Gebet. Die meisten Geflüchteten haben bei ihrer Ankunft zunächst nach solchen Anlaufstationen gesucht, um im Gebet Trost zu finden und hier auch die Unterstützung und Solidarität der deutschen Bevölkerung zu spüren. Von daher sind die ukrainischen Gemeinden in Deutschland enorm wichtig, aber – auf dem Hintergrund der katholischen Soziallehre – vor allem auch Orte der humanitären Hilfe mit den nötigen Strukturen zum Beispiel für Hilfsaktionen, was der Kirche große Glaubwürdigkeit verleiht. Denn über unsere kirchlichen Kanäle leiten wir die Spenden dorthin, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Von daher spielt die Kirche eine außergewöhnlich große Rolle.
Und inzwischen gibt es eine Menge Hilfsorganisationen, die sie bei ihrem Engagement unterstützen. Die Kirchen in Deutschland sind für uns wie Inseln, weil wir hier eben auf Ukrainisch beten können und uns das Hoffnung schenkt. Das schafft Identität und ist für uns Ukrainer sehr wichtig. Außerdem sind sie kulturelle Zentren, in denen wir ukrainische Volkslieder singen oder auch Volksfeste feiern können, so dass wir auch fern der Heimat unsere Kultur leben können.
DOMRADIO.DE: Sie sind selbst junger Familienvater – weil der Zölibat für Sie nicht verpflichtend ist – leben aber hier in Sicherheit. Wie können Sie Menschen Mut machen, die einen geliebten Angehörigen im Krieg verloren haben oder in großer Sorge um die in der Ukraine Zurückgelassenen leben?
Aronovych: Natürlich begegnen wir vielen traumatisierten Menschen, die um einen Familienangehörigen trauern oder den Verlust ihrer gesamten Existenz. Viele Frauen bangen um das Leben ihrer Männer in der Ukraine. Auch das ist eine große psychische Belastung, in ständiger Angst um sie zu leben. Das Wichtigste ist, dass wir schon allein durch unser Da-sein Trost spenden. Für mich als Priester ist wichtig, bei diesen Menschen zu sein und zur Verfügung zu stehen: sei es für ein Gesprächsangebot nach der Messe, bei einer Kinderkatechese oder in Ferienlagern, die wir organisieren. Der Bedarf an Seelsorge ist sehr groß, weil viele ihr Herz ausschütten und ihren Schmerz teilen wollen. Genauso oft schweigen wir aber auch miteinander oder weinen zusammen. Wichtig ist, dass die Menschen die Erfahrung machen, dass sie von ihrem Priester sehr eng begleitet werden – vor und nach den Gottesdiensten, aber auch bei vielen Hausbesuchen, zu denen ich eingeladen werde oder die ich auch selbst anbiete. Überall wo ich gebraucht werde, versuche ich zu helfen.
DOMRADIO.DE: Sie wohnen in Euskirchen, sind aber vor allem auch für Köln und Bonn zuständig. So feiern Sie jeden Sonntag Gottesdienst in der Mülheimer Gemeinde St. Theresia in ukrainischer Sprache und in St. Marien, Bad Godesberg. Was bedeuten den Menschen diese Gottesdienste?
Aronovych: Sehr viel. Ihnen ist wichtig, die Messe in der eigenen Landessprache feiern zu können, weil es um das Gespräch mit Gott geht; um das, was man tief im Herzen hat. Und ihre Gefühle können die Menschen nun mal am besten auf Ukrainisch zum Ausdruck bringen. Nach den Gottesdiensten ist – wie gesagt – dann noch Zeit für Gespräche, auch für die regelmäßige Katechese mit den Kindern, die von einer Katechetengruppe oder auch einem Priester betreut werden. Darüber hinaus versuchen wir, einen Kontakt zu den Jugendlichen zu bekommen, die immer auch schwierige Fragen mitbringen, weil auch sie natürlich der Krieg sehr beschäftigt und sie nach Antworten suchen. Dabei geht es meist um existentielle Fragen: um Leben und Sterben – weil das gerade unmittelbar ihre Realität betrifft.
Dann gehört zu diesen Treffen nach dem Gottesdienst auch, dass vor allem die Frauen, deren Männer sich gerade an der Front befinden, Kerzen gießen, weil es im Winter in der Ukraine sehr kalt ist und sich unsere Kämpfer auch irgendwie wärmen müssen. Große Feuer können sie nicht machen, weil sie vom Gegner sonst sofort ausfindig gemacht werden können und sie damit ihr Leben riskieren. Aber sie bitten eben um diese Kerzen, die von überall her in die Ukraine geliefert werden. Diese Kerzen aus altem Wachs stellen wir daher fast jeden Sonntag in großer Zahl her. Zusammen mit Süßigkeiten, Unterwäsche oder anderen dringend benötigten Kleinigkeiten werden sie verpackt und an die Front geschickt.
DOMRADIO.DE: Was hören Sie aktuell aus der Heimat? Wie geht es Ihrer Familie?
Aronovych: Ich bin tagtäglich mit meinen Verwandten im Austausch, aber auch mit Soldaten, die an der Frontlinie stationiert sind. Überhaupt halte ich als Seelsorger mit vielen Menschen in der Ukraine Kontakt, und dann verfolge ich natürlich auch immer die aktuellen Nachrichten. Was uns an Grausamkeit schon in den ersten Kriegstagen erschüttert hat, setzt sich immer noch fort: dass Zivilisten ihr Leben verlieren, Schulen, Krankenhäuser und Privathäuser zerstört werden. Ob in Lwiv oder Charkiw – immer noch geschieht Schreckliches. Und es ist wichtig, sich immer wieder klar zu machen, dass der Krieg tagtäglich Opfer fordert und dass die Menschen immer noch unter den furchtbaren Angriffen genauso leiden wie zu Beginn des Krieges. Nichts hat sich seitdem verändert, auch wenn man sich inzwischen zwangsläufig an manche Bilder gewöhnt hat.
Und trotzdem: Daran, dass Menschen ihr Leben verlieren, viele Kinder sterben oder verletzt werden, manche ein Bein oder eine Hand bei den täglichen Raketenangriffen verlieren, die Bewohner nicht in ihre Wohnungen zurück können, weil diese ausgebombt wurden, und vor Gewalt und Terror fliehen – daran kann man sich nicht wirklich gewöhnen. Hinter jeder einzelnen Nachricht steht ja ein menschliches Schicksal, jede Bombardierung nimmt Einfluss auf die Zukunft eines Menschen. Wenn wir Bilder von zerstörten Häuserzeilen und ganzen Siedlungen sehen, dann müssen wir uns bewusst machen, dass darin vielleicht gerade Familien mit ihren Kindern geschlafen oder Großeltern mit ihren Enkeln gespielt haben. Eigentlich machen die Menschen in der Ukraine ja nichts anderes als wir hier in unserem Alltag – nur dass ihr Leben ständiger Todesgefahr ausgesetzt ist.
DOMRADIO.DE: Wir alle hoffen auf ein baldiges Ende dieses brutalen Krieges mit unzähligen Opfern auf beiden Seiten. Das war aber auch schon wenige Wochen nach Kriegsausbruch der Fall. Inzwischen sind daraus zwei Jahre geworden. Wie schätzen Sie die politische Lage ein?
Aronovych: Als Ukrainer hoffen wir alle inständig, dass wir bald nicht mehr gezwungen sind, uns zu verteidigen; dass die Angreifer nach Hause heimkehren zu ihren Familien. Was in der Ukraine passiert, ist ein schrecklicher Vernichtungskrieg, aber er hat uns als Volk auch sehr geeint und sorgt für einen großen Zusammenhalt wie vielleicht nie zuvor. Dazu gehört, dass niemand plant aufzugeben, auch wenn wir uns in einer sehr schwierigen Phase des Krieges befinden.
Auf den Friedhöfen wehen so viele ukrainische Flaggen, von der jede für den Verlust eines Menschen, eines Soldaten steht. Menschlich ist nicht zu ertragen, was in der Ukraine geschieht: so viele junge Männer – aber eigentlich jeden Alters – die in diesem Krieg gestorben sind und doch so gerne gelebt hätten. Wie oft beerdigen Kinder ihre Väter oder Mütter ihre Söhne! Wie könnte man diesen Menschen ins Gesicht sehen, wenn nun aufgegeben würde, das Opfer dieser vielen Menschen umsonst gewesen wäre. Aufgeben ist daher keine Option, denn wir haben ja keine andere Heimat. Und diese Heimat müssen wir verteidigen.
DOMRADIO: Vor viereinhalb Monaten ist ein weiterer Krieg dazu gekommen. Haben Sie Sorge, dass der Ukraine-Krieg vom Krieg in Nahost überlagert wird und das Leid der Ukrainer mehr und mehr in Vergessenheit gerät, weil eine allgemeine Kriegsmüdigkeit einsetzt?
Aronovych: In den ersten Tagen war für alle in Europa selbstverständlich, dass die Ukraine unterstützt werden muss, weil das Land alleine nicht in der Lage war, einem solchen starken Gegner lange standzuhalten. Und das ist bis heute so, dass wir ohne Hilfe den Widerstand nicht aufrecht erhalten können – einmal davon abgesehen, dass unsere Kämpfer wahre Heldentaten vollbringen. Aber wir brauchen immer noch viel Unterstützung, weil wir es alleine nicht schaffen können. In der Tat sind inzwischen viele kriegsmüde geworden, was nachvollziehbar ist. Und klar, sehnen wir nichts mehr herbei als ein Ende des Krieges, aber wir müssen weiter kämpfen, weil Russland uns diesen Krieg aufzwingt.
Natürlich muss genau so laut über den Krieg in Nahost gesprochen werden. Es geht nicht darum zu zeigen, dass unser Krieg der wichtigste auf der ganzen Welt ist, aber wir kämpfen gleichzeitig eben auch für Demokratie und westliche Werte. Bisher hatten wir keine Probleme mit Regimes, die prorussisch eingestellt waren – immerhin leben wir in unmittelbarer Nähe zu Russland – aber eigentlich herrscht schon seit 2013, als wir als Volk zum Ausdruck gebracht haben, dass wir uns mit Europa verbünden und nicht Russland anschließen wollen, Krieg in der Ukraine. Denn Russland kann aus ideologischen Gründen einfach nicht akzeptieren, dass wir uns für die Annäherung an den Westen entschieden haben.
Sowohl für Israel als auch die Ukraine geht es um die Existenz. Wichtig ist daher, überhaupt von diesen Kriegen zu sprechen, damit sie in unserem Bewusstsein bleiben. Krieg ist immer etwas Furchtbares – egal wo. Und kein Krieg darf vergessen werden.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.