Sexueller "Online-Missbrauch" nimmt in der Pandemie zu

Wenn Sextourismus ins Netz ausweicht

Der Kinderschützer Father Shay Cullen schlägt Alarm: In der Corona-Pandemie steigt die sexuelle Ausbeutung von Kindern im Internet. Pädophile wählen sich weltweit in Live-Videos ein. Damit werde eine neue Stufe der Perversion erreicht, sagt er.

Autor/in:
Ina Rottscheidt
Teddybär im Schmutz / © Alla Vasylenko (shutterstock)

Paloma war 13 Jahre alt, als sie auf der Suche nach einem Job als Babysitterin in die Hände von Pädophilen geriet. Das Angebot war eine Falle: Anstatt auf Kinder aufzupassen zwang man sie, sich vor einer Webcam auszuziehen und zu tun, was die "Kunden" im Chat von ihr verlangten. Zwölf Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Paloma verstand nicht, was man mit ihr machte, die Täter am anderen Ende der Leitung waren so alt wie ihr Vater. An die tausend sollen es gewesen sein. Sie gaben ihre perversen Befehle aus der Ferne, aus den USA, Europa und vielen anderen Regionen der Welt.

Father Shay Cullen kann viele solcher Geschichten erzählen: Der irische Missionar gründete 1974 auf den Philippinen die private Hilfsorganisation PREDA ("Peoples Recovery, Empowerment and Development Assistance Foundation"), mit der er gegen Sextourismus, Kinderprostitution und sexuellen Missbrauch kämpft und Straßenkindern eine Zufluchtsstätte bietet. Auf den Philippinen werden tausende Jungs und Mädchen sexuell missbraucht. Manche der Opfer sind erst wenige Monate alt, viele werden von ihren eigenen Eltern verkauft.

Corona lässt die Ausbeutung im Internet steigen

Durch die Corona-Pandemie und die weltweiten Reisebeschränkungen sei der sonst "übliche" Sextourismus ins Internet ausgewichen, erzählt Cullen. Dabei wird der Missbrauch an einem Kind live im Internet übertragen; Pädokriminelle zahlen dafür, dass sie zusehen und sich per Chat beteiligen können, ohne direkten physischen Kontakt zu dem Opfer zu haben. Zugleich hat Corona die Not der Ärmsten noch verschärft, sodass Familien ihre Kinder verkaufen, um das Einkommen für die Familie zu sichern.

Sexuelle Ausbeutung von Kindern im Internet ("Online Sexual Exploitation of Children"/OSEC) ist ein relativ neues Phänomen, das erst durch die globale Vernetzung des Internets möglich wurde. In jedem Moment seien etwa 750.000 Täter weltweit online auf der Suche nach minderjährigen Opfern, schätzt Father Cullen.

Der irische Missionar berichtete davon im Rahmen der Fachkonferenz "Eine Welt. Keine Slaverei", die das Internationale katholische Missionswerk missio vom 22. bis 23. Juni 2021 veranstaltet. Unter der Schirmherrschaft von Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) diskutieren Expertinnen und Experten aus Kirche, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft über "Moderne Sklaverei": Weltweit leiden 40 Millionen Menschen unter Ausbeutung, Zwang und Gewalt – Sexualisierte Gewalt, auch in Form von Sextourismus und Zwangsprostitution ist eine Form moderner Sklaverei. Die Täter leben überwiegend in den reichen Industriestaaten, auch in Deutschland.

Strafverfolgung schwierig

Zwar ist hierzulande sexualisierte Gewalt gegen Kinder strafbar. Auch Besitz und Verbreitung von Darstellungen sexuellen Kindesmissbrauchs. Da der sexuelle "Online-Missbrauch" jedoch über Live-Streams stattfindet, ist die Strafverfolgung schwierig: Pädokriminelle können sich von jedem Ort der Welt einwählen und ihre Anweisungen geben, ohne digitale Spuren zu hinterlassen. Auf der anderen Seite der Webcam würden ihre abscheulichen Phantasien dann an schutzlosen Kindern ausgeführt, erzählt Father Cullen. Er fordert ein Ende der Straflosigkeit für die Täter in den Nachfrage-Ländern, das sei für die Opfer extrem wichtig. Dabei nahm der Ordensmann auch seine Kirche nicht aus: "Um glaubwürdig zu sein, müssen wir den Missbrauch in den eigenen Reihen noch viel entschiedener bekämpfen", sagte er.

In Deutschland hänge es oft vom Zufall ab, ob Täter belangt würden oder nicht, so Manfred Paulus, der als Kriminalhauptkommissar 30 Jahre im Bereich des Kinderhandels und der Pädokriminalität ermittelt hat. "Es gibt in Deutschland tausende Personen, die dem Kinderschutz verpflichtet sind und von Verdachtsfällen wissen, ohne sie an die Behörden weiterzugeben", berichtet er der missio-Konferenz. Oft herrsche Verunsicherung, beispielsweise wenn es um die Schweigepflicht gehe. "Wir brauchen eine Anzeigepflicht bei Verdacht auf schwere Straftaten", fordert er. Dabei dürfe auch der Datenschutz nicht im Weg stehen, Kinderschutz müsse Priorität haben. 

Und auch bei Straftaten, die von Deutschen im Ausland begangen werden, müsse mehr passieren, so Paulus: "Die Dunkelziffer auf dem Feld ist nach wie vor riesig, zu groß für einen Rechtsstaat wie Deutschland. Da besteht Handlungsbedarf!"

Appell an die Bundesregierung

Die Geschichte von der 13-jähigen Paloma nahm ein gutes Ende: Bei einer Polizei-Razzia wurde sie befreit und fand Zuflucht im Kinderschutzzentrum PREDA von Father Shay Cullen. Dort erhalten Opfer von sexuellem Online-Missbrauch seelsorgerisch-therapeutische Hilfe. Seit vielen Jahren wird er dabei schon im Rahmen der "Aktion Schutzengel" von missio in Aachen unterstützt.

Vor diesem Hintergrund hat missio an diesem Dienstag eine Petition auf den Weg gebracht, die die Bundesregierung dazu auffordert, aktiv zu werden: Plattformen im Internet müssten stärker in die Pflicht genommen werden, eine längere Datenspeicherung müsse her, damit mehr Fälle strafrechtlich verfolgt werden können und es brauche mehr Ermittler beim BKA, heißt es da. Neben Father Cullen und dem Kriminalhauptkommissar a.D. Manfred Paulus, zählte der Präsident von missio Aachen, Pfarrer Dirk Bingener, zu den ersten Unterzeichnern: Sexueller "Online-Missbrauch" sei eine Form der Modernen Sklaverei. "Andere Beispiele sind Menschen, die in den Goldminen im Kongo arbeiten müssen, auf äthiopischen Blumenfeldern, in Textilfabriken in Bangladesch oder auf Kakaoplantagen in Ghana", sagt er. "Und als inter­nationales katholisches Missionswerk folgen wir dem Appell von Papst Franzis­kus und bekämpfen Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschlichkeit."


Father Shay Cullen (missio)
Father Shay Cullen / ( missio )

Dirk Bingener / © Julia Steinbrecht (KNA)
Dirk Bingener / © Julia Steinbrecht ( KNA )
Quelle:
DR
Mehr zum Thema