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DOMRADIO.DE: Die Anzahl der Übergriffe auf Christen in Jerusalem nimmt zu. Was bisher nur eine gefühlte Wahrheit war, haben Sie in einem neuen Bericht nun erstmals wissenschaftlich erfasst. Aber überraschend kommt dieses Ergebnis nicht, oder?
Hana Bendcowsky (Programmdirektorin "Rossing Center für Bildung und Dialog" in Jerusalem): Schlechte Nachrichten überraschen einen am Ende doch immer ein wenig. Man hofft ja auf Besserung. Wir haben schon die letzten Jahre einen Anstieg der Zahlen festgestellt, aber vor allem im Jahr 2023. Das Projekt haben wir schon 2022 ins Leben gerufen als es ein paar sehr ernste und öffentliche Übergriffe gab. Im Januar wurde der anglikanische Friedhof verwüstet. Das war für uns der Auslöser, dieses Thema auch einmal wissenschaftlich und methodisch anzugehen.
Bis dahin wussten wir zwar auf Anekdotenbasis von Übergriffen, niemand hat diese Zahlen aber wirklich gesammelt und kategorisch erfasst. Den Anstieg konnten wir anfangs also nicht wissenschaftlich belegen. Wir hatten aber das Gefühl, die Intuition, dass sich die Lage in den vergangenen Jahren verschärft hat. Das politische Klima, die gesellschaftliche Atmosphäre hat sich über Jahre schon aufgeheizt. Die Stimmung innerhalb der israelisch-jüdischen Gesellschaft hat sich in alle Richtungen radikalisiert, deshalb war auch der Anstieg der Übergriffe auf Christen am Ende keine Überraschung.
DOMRADIO.DE: Wie haben Sie diese Daten konkret erhoben?
Bendcowsky: Wir haben die Zahlen aus verschiedenen Quellen zusammengetragen. Anzeigen, Polizeiberichte, Interviews. Teilweise sind wir von Gemeinschaft zu Gemeinschaft gegangen und haben direkt nachgefragt. Über einige Vorfälle wurden auch in den Medien berichtet. Es gibt auch Freiwillige, die für uns Informationen zusammengetragen haben.
Im besten Fall sind die Gemeinden nach dem Erstkontakt von sich aus auf uns zugekommen, wenn es neue Vorfälle gab und haben die entsprechenden Formulare ausgefüllt. Es geht also um mehr als nur darum, eine Umfrage durchzuführen. Wir hoffen, dass mit der Zeit mehr und mehr Gemeinden das Bewusstsein und den Mut und entwickeln, solche Übergriffe nicht für sich zu behalten. Das ist im Moment noch die größte Herausforderung, dass kleinere Vorfälle wie Anspucken oder Beleidigungen einfach unter den Tisch fallen. "Ist ja nicht so schlimm." Wenn die Gemeinden diese Vorfälle nicht ernst nehmen, können wir das auch nicht tun. Die einzelnen Angriffe mögen vielleicht auch nicht so dramatisch sein, das größere Problem dahinter ist in der Tat allerdings ziemlich ernst.
DOMRADIO.DE: Ihre Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2023. Am 7. Oktober 2023 hat der Hamas-Angriff auf Israel so gut wie alles verändert in Ihrem Land. Stellen Sie da auch Auswirkungen in der Zahl oder Art der Angriffe auf Christen fest?
Bendcowsky: Das ist sehr schwer einzuschätzen, aus verschiedenen Gründen. Die meisten Konflikte zwischen Juden und Christen ereignen sich am Rande der Altstadt von Jerusalem. Nach dem 7. Oktober kommen an sich viel weniger Menschen nach Jerusalem und in die Altstadt. Das heißt es gibt auch weniger mögliche Konfliktpunkte und demnach auch weniger Angriffe. Diesen Zustand kann man aber eben nicht mit der Situation vor dem Hamas-Überfall vergleichen, weil die Ausgangslage eine völlig andere ist.
Ich habe das subjektive Gefühl, dass die israelische Gesellschaft seit dem 7. Oktober in einem Trauma-Zustand lebt. Das spiegelt sich auch wieder in einer Abwehrhaltung gegenüber allem, was nicht als israelisch bzw. jüdisch betrachtet wird. Alle Gemeinschaften schotten sich im Moment ab, ziehen sich in ihre eigenen Blasen zurück. Und dazu gehört auch eine Distanzierung gegenüber Andersgläubigen. Offensichtlich gegenüber den Palästinensern, Arabern, da vergrößert sich im Moment die bereits bestehende Distanz noch mehr leider.
Ich sehe aber auch gegenüber den Christen keine gegenteilige Entwicklung, keinen Heilungsprozess der existierenden Konflikte in den letzten acht Monaten. Das erwarte ich auch nicht, sondern eher eine Zuspitzung auch dieses Konfliktes. Das kann ich nur leider momentan nicht wissenschaftlich belegen.
DOMRADIO.DE: Die große Frage ist ja warum diese Übergriffe auf Christen passieren. Eigentlich würde man als Außenstehender ja denken, dass die Christen nicht Teil des israelisch-palästinensischen, bzw. jüdisch-muslimischen Konfliktes sind.
Bendcowsky: Man muss erst mal klarstellen: Die Christen sind Teil des Konflikts. Es gibt zum Beispiel palästinensische Christen. Die meisten Übergriffe, die wir dokumentiert haben, richten sich aber in der Tat gegen ausländische Christen, die nicht als Teil des Konfliktes wahrgenommen werden. Es gibt auch Angriffe auf palästinensische Christen, wir sehen darin oftmals aber eher das Christliche als das Palästinensische als Angriffsziel.
Was die Beweggründe angeht, da müssen wir tatsächlich in die Geschichte schauen, in die Entstehungszeit des Christentums. Damals haben sich die zwei Gemeinschaften – Judentum und Christentum – getrennt, weil sie eine unterschiedliche Auffassung der Texte hatten. Diese Meinungsverschiedenheit hat sich zu einer Abneigung und Abgrenzung entwickelt. Wir als Juden haben das über die Jahrhunderte zu einem Teil unserer Identität gemacht, gerade in Minderheitensituationen. Wir schotten uns ab und denken an die Christen nur als Verfolger, der eine Bedrohung für unseren Glauben, unsere Identität und unser Leben darstellen. Mit dieser Geschichte sind wir vor 80 Jahren nach Israel gekommen.
Hier und heute sieht die Situation allerdings völlig anders aus. Hier sind die Juden nicht die Minderheit, sondern die Mehrheitsgesellschaft. Trotzdem behalten wir Juden uns bis heute die Mentalität einer verfolgten Minderheit. "Die ganze Welt ist gegen uns, also auch die Christen." Die meisten Menschen, die in Israel aufwachsen, haben nie positive Erfahrungen mit Christen in ihrem Umfeld machen können, weil es kaum welche gibt. Wir kennen nur die Erfahrungen aus den Geschichtsbüchern.
Viele Juden betrachten Christen also als die große, ultimative Bedrohung. Diese Angst sitzt so tief in unserer Identität verwurzelt, dass wir sie auch heute nicht loswerden. Für einige Juden bildet das dann auch die Rechtfertigung, den nächsten Schritt zu gehen: Die Christen zu verachten und eben auch anzugreifen. Was es eigentlich bräuchte, wäre ein Prozess der Verarbeitung dieser uralten Wunden. Ein Heilungsprozess mit dem Christentum. Wir als Juden hatten nie unser „Nostra aetate“.
DOMRADIO.DE: Das bezieht sich ja aber erst mal nur auf die Einstellung. Übergriffe sind noch mal eine andere Dimension.
Bendcowsky: Diese Animositäten gab es schon immer in einigen jüdischen Kreisen, dass man aktiv wird und diesen Hass auch auslebt, übergriffig wird, das ist neu. Das hat viel mit dem politischen Klima zu tun, das sich auch schon vor dem 7. Oktober über Jahre zugespitzt hat. Es gab schon früher Spuckattacken, vor allem aus den Reihen der Ultraorthodoxen, aber nicht in dieser Dimension.
Wir stellen auch fest, dass die Angreifer neuerdings aus einem anderen Umfeld kommen. Vor 20 Jahren, also ich mit dieser Arbeit angefangen habe, waren es überwiegend die ultraorthodoxen Juden. Jetzt sprechen wir von "orthodoxen Nationalisten". Das ist ein neues Phänomen, zumindest in diesem Ausmaß. Diese Gruppen sind religiöser als säkulare oder selbst modern-orthodoxe Juden: Vor allem sind sie aber durch ihren Nationalismus geprägt. Wir können diese Gruppen auch relativ leicht identifizieren, an ihren Schulen, an ihren Wohnorten. Zu ihnen gehören auch Politiker wie Itamar Ben-Gvir (Anm. d. Red: Minister für nationale Sicherheit, 2007 gerichtlich für rassistische Aufhetzung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt) oder Bezalel Smotrich (Finanzminister, Zuständig für den Siedlungsausbau, leugnet die Existenz eines palästinensischen Volkes).
DOMRADIO.DE: Dabei gibt es ja nicht nur die gewalttätigen Übergriffe, wie die Brandstiftung am Benediktinerkloster Tabgha, sondern eben auch Anrempeln oder Beleidigen. Macht das denn für Sie einen Unterschied, oder ist jeder Übergriff gleich zu werten?
Bendcowsky: Es ist fast schon ironisch, aber ich finde die "kleinen" Alltagsübergriffe auf lange Sicht mitunter folgenreicher als die "großen".
Wenn Gräber auf dem Zionsberg geschändet werden oder eine Jesus-Statue zerstört wird, dann bringen solche Vorfälle die israelische Gemeinschaft eher zusammen. Die Mehrheit steht hinter den Opfern. Die Täter sind dann meistens marginalisierte junge Männer am Rande der Gesellschaft, die keinen großen Sinn im Leben sehen. Einfach Unruhestifter. Diese Vorfälle sind zwar im Moment des Geschehens dramatisch, auf lange Sicht schwächen sie aber nicht die christliche Gemeinschaft.
Beim Beleidigen, Spucken, Anrempeln oder bei Graffitis sieht es anders aus. Das mag im Moment der Tat zwar nichts Weltbewegendes sein, verstärkt aber mittelfristig für die Christen das Gefühl, dass sie in ihrer eigenen Heimat nicht willkommen sind. Hier sind auch die Täter keine Außenseiter, sondern religiöse Juden in der Mitte der Gesellschaft. Das übt auf Dauer einen Druck aus, der immer schwerer auszuhalten sein wird. Da kommt nicht in die Nachrichten, aber gibt jedes Mal ein kleines Argument mehr für Christen vielleicht doch noch das Land zu verlassen. Eine Frage, die sich besonders nach dem 7. Oktober viele Christen stellen.
DOMRADIO.DE: Sie haben es gesagt, viele dieser Vorfälle schaffen es nicht in die Medien. Warum werden die Übergriffe auf Christen so wenig öffentlich thematisiert? Vielen, besonders außerhalb des Landes, ist das ja gar nicht bewusst.
Bendcowsky: Im Moment dreht sich eh alles nur um den Krieg. Alles andere geht medial völlig unter. Vorher gab es durchaus das Bestreben einiger Journalisten, das Thema aufzugreifen. Aber es hat eine Weile gedauert, bis ein Problembewusstsein entstanden ist. Es gab zum Beispiel einen Reporter, der sich als Franziskaner verkleidet und über seine Erlebnisse berichtet hat. Es wurde aus meiner Sich im Vergleich zu anderen christlichen Themen innerhalb Israels durchaus abgedeckt.
International ist das eine andere Frage. Wenn man diese Vorfälle nicht in den größeren Kontext setzt, über den wir jetzt gesprochen haben, haben sie auf den ersten Blick nicht den großen Nachrichtenwert. Da gibt es größere Probleme als 60 Spuckattacken auf Christen. "Was ist daran so schlimm, es wurde doch niemand verletzt?"
Vor dem Krieg wurde ich auch öfters von überraschten Journalisten in Interviews befragt: Ist die Lage wirklich so schlimm? Ich habe dann immer gesagt: Natürlich ist die Lage der Christen nicht so dramatisch, wie von Palästinensern in den Hügeln südlich von Hebron, die im ständigen Konflikt mit den Siedlern leben.
Heute könnte man sagen: Die Lage ist nicht so schlimm wie in Gaza, offensichtlich. Natürlich ist die Lage nicht akut lebensbedrohlich für die Christen, aber auf lange Sicht bedrohen solche Übergriffe die christliche Präsenz im Heiligen Land. Wir als israelische Gesellschaft haben eine Verantwortung für die Minderheiten und wollen sie ja eigentlich auch in unserem Land. Wir wollen, dass sie bleiben.
Also ja, die Lage ist ernst: Im Kontext der Abwanderung, des politischen Klimas, der rechtsnationalen Gruppen, deren Einfluss wächst und unter denen auch ich als Jüdin leide. Genau darauf aufmerksam zu machen ist das Ziel unserer Arbeit. Es geht uns nicht um die Zahlen, sondern um ein Problembewusstsein.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.