Warum Israels Corona-Strategie vielleicht zu ehrgeizig ist

Wettlauf zwischen Ansteckung und Impfung

Israel impft wie kein zweites Land auf der Welt. Doch kann der Staat sein ehrgeiziges Ziel "Zurück zum Leben" einhalten? Hohe Auslastungen der Krankenhäuser, Mutationen und Wahlkampftaktiken gefährden die Mission.

Autor/in:
Andrea Krogmann
Symbolbild Impfen / © New Africa (shutterstock)

Die Welt blickt nach Israel. Das Land legt bei der Impfung seiner Bewohner gegen das Coronavirus ein Tempo vor, bei dem sich Europa und die USA verwundert die Augen reiben. "Wir sind die Ersten, die Besten, die Schnellsten", sind Superlative, wie sie gegenwärtig häufig über die Lippen des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu kommen. Manche seiner Entscheidung dürften vor allem politisch motiviert sein. Doch die Covid-19-Statistiken deuten an, dass "Weltmeister Israel" mit seinem Ziel "Zurück zum Leben" vielleicht doch zu ehrgeizig war.

Krankenhäuser an der Belastungsgrenze

Die guten Zahlen zuerst: Bis zum Morgen des 25. Januar sind nach Angaben des israelischen Gesundheitsministers Juli Edelstein 2,59 Millionen Bewohner Israels geimpft worden, darunter 80 Prozent der über 60-Jährigen. Mehr als eine Million von ihnen hat die abschließende zweite Impfdosis erhalten. Auch die Zahl der Neuinfektionen ist nach Tagen mit rund 10.000 Fällen täglich auf zuletzt etwa 4.900 gesunken.

Trotzdem sind Israels Krankenhäuser an der Belastungsgrenze. Sieben regierungsunabhängige, öffentliche Kliniken, darunter die beiden größten in Jerusalem, Hadassah und Schaarei Zedek, warnen vor Überbelegung und Unterfinanzierung. Seit Sonntag führen sie keine ambulanten Behandlungen von nicht-lebensbedrohlichen Fällen mehr durch.

Das Wolfson-Krankenhaus in Holon nahm ab Samstag überhaupt keine neuen Corona-Patienten mehr auf. 40 der 80 Covid-19-Patienten auf der dortigen Intensivstation seien in kritischem Zustand.

Britische Mutation gefährdet Ziel

Die Erkrankten der dritten Welle sind jünger und ohne nennenswerte Vorerkrankungen. Die Zahlen der Patienten in kritischem Zustand sind weiterhin hoch, 1.140 waren es Montagmorgen, 358 wurden künstlich beatmet. Die Zahl der Corona-Toten im Januar überschritt am Sonntag die Tausender Marke, knapp ein Viertel der 4.400 Opfer und die höchste monatliche Sterblichkeitsrate seit Beginn der Pandemie.

Vor allem die britische Mutation des Virus gefährdet ehrgeizige Ziel. Für bis zu 50 Prozent der Neuinfektionen soll sie verantwortlich sein. Glaubt man neuesten Schätzungen, müssten wegen der mutmaßlich deutlich ansteckenderen Variante mindestens 80 Prozent der Bevölkerung geimpft werden, um Herdenimmunität zu erreichen.

Bisher bei der Sterblichkeitsrate ein Vorteil wird die junge israelische Gesellschaft plötzlich zum Hindernis: Rund 30 Prozent sind Kinder unter 16 Jahre, die Impfungen sind für diese Altersgruppe bisher nicht zugelassen. Herdenimmunität ist so schon rein rechnerisch nicht möglich, und das noch ohne die Rechnung mit Impfverweigerern gemacht zu haben.

40 Prozent der Virusträger sind ultraorthodox

In Sachen Flughafen hat Israel am Sonntag die Notbremse gezogen. Als "das erste Land der Welt", wie Netanjahu stolz anmerkte. Waren seit Beginn der Pandemie die Einlasskontrollen zumindest für Israelis eher lasch, soll der Flugverkehr von und nach Israel zunächst bis Ende des Monats mit sehr eng gefassten Ausnahmen ganz zum Erliegen kommen.

Wolle Israel der Verbreitung neuer Virusmutationen wirksam Einhalt gebieten, müsse es den Himmel über sich Wochen statt Tage schließen, forderte unmittelbar die Leiterin der Abteilung öffentliche Gesundheit im Gesundheitsministerium, Scharon Alroi-Preis.

Eine noch größere Herausforderung wird in einem besonderen Segment der israelischen Gesellschaft sichtbar: Strengreligiöse Juden, sogenannte Ultraorthodoxe oder Haredim, stellen rund zehn Prozent der Israelis. Unter den aktuellen Virusträgern machen sie 40 Prozent aus.

Kampf gegen Covid-19 prägt Wahlkampf

Die Lockdown-Regeln, das legen zumindest tägliche neue Nachrichten über gewalttätige Zusammenstöße zwischen Haredim und Polizisten nahe, gelten hier nicht viel. Viele Synagogen und Bildungseinrichtungen bleiben trotz anderslautender behördlicher Anweisung in Betrieb.

Doch die Haredim sind im Parlament das Zünglein an der Waage, ein hartes Durchgreifen mitten im Wahlkampf will überlegt sein. Wenn Israel am 23. März zum vierten Mal in zwei Jahren ein Parlament wählt, geht es auch um die politische Zukunft von Benjamin Netanjahu - und sie scheint eng verknüpft mit Erfolg und Misserfolg im Kampf gegen Covid-19. Mit Fortschreiten der Impfkampagne stieg auch der Stimmenanteil, den Netanjahus Likud in Umfragen erzielte

Auch von einer anhaltenden Notstandssituation mit mehr oder weniger strikten Einschränkungen individueller Freiheiten profitiert er. Moralische Fragen hingegen, etwa über die ungleiche Verteilung von Impfstoff in der Region oder Impfhilfe für Palästinenser in den von Israel besetzten Gebieten spielen kaum eine Rolle.


Parlamentswahl in Israel:  Benjamin Netanjahu, Ministerpräsident von Israel, bedankt sich bei seinen Anhängern / © Oded Balilty (dpa)
Parlamentswahl in Israel: Benjamin Netanjahu, Ministerpräsident von Israel, bedankt sich bei seinen Anhängern / © Oded Balilty ( dpa )
Quelle:
KNA
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