Wie die Ukrainer die Fußball-EM in der Heimat feiern

EM-Fieber im Kriegsalltag

Die Europameisterschaft zieht Europa in den Bann. Auch in der Ukraine herrscht EM-Stimmung. Die Menschen fiebern mit ihrer Mannschaft und sitzen gemeinsam beim Public Viewing, wenn nicht gerade der Strom ausfällt.

Spieler der ukrainischen Fußballnationalmannschaft bei der EM / © Peter Kneffel (dpa)
Spieler der ukrainischen Fußballnationalmannschaft bei der EM / © Peter Kneffel ( dpa )

DOMRADIO.DE: An diesem Freitag spielt die Ukraine gegen die Slowakei. Herrscht in der Ukraine EM-Stimmung – oder ist man da viel zu sehr mit der Bewältigung des Alltags im Krieg beschäftigt?

Andrij Waskowycz / © Julia Steinbrecht (KNA)
Andrij Waskowycz / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Andrij Waskowycz (Leiter der Diakonie Katastrophenhilfe in Kiew): Es herrscht auf jeden Fall eine riesen EM-Stimmung im Land. Die Ukraine ist eine große Fußballnation und die Menschen hier verfolgen die Fußballspiele mit großer Begeisterung. Leider war das erste Spiel der Ukraine nicht siegreich und wir waren enttäuscht über das 0:3 gegen Rumänien. Ich habe mit Leuten gesprochen, die sich das Spiel nicht anschauen konnten und von dem Ergebnis erst nach dem Spiel erfahren. Die waren wirklich enttäuscht, dass die Ukraine bei ihrem ersten Spiel so schlecht abgeschnitten hat. 

DOMRADIO.DE: Wie wird denn in der Ukraine Fußball geguckt? Gibt es Strom, Internet und funktionierende Fernseher? Gibt es auch ein Public Viewing in Kneipen oder an öffentlichen Orten oder ist das alles wegen des Krieges zu schwierig? 

Waskowycz: Vor allem in Bars und Restaurants werden Bildschirme aufgestellt und die Leute schauen sich die Spiele an. In der Ukraine herrscht ab Mitternacht eine Ausgangssperre, aber das wirkt sich bei diesen Spielen nicht aus. In manchen Städten wird zeitweilig der Strom abgeschaltet und die Menschen sitzen im Dunkeln, dann können sie natürlich auch keinen Fußball schauen. Aber grundsätzlich ist die EM für viele eine Ablenkung von der ständigen Anspannung, in wir leben. 

Ich war gestern in der Stadt Dnipro und wir hatten viermal Luftalarm innerhalb eines Tages. Dann müssten die Menschen eigentlich in die Luftschutzkeller gehen, aber viele schon nicht mehr, weil das so häufig passiert.

Das heißt die Ukrainer leben in einer Balance zwischen dem Wunsch, ein normales Leben zu führen, sich Fußballspiele anzuschauen, sich zu unterhalten oder ins Theater zu gehen und der beständigen Anspannung, die der Krieg verursacht, vor allem in der Ostukraine, wo ich mich gerade befinde.

Kiew: Eine Verkäuferin arbeitet mit dem Licht einer Taschenlampe bei einem Stromausfall in einem unterirdischen Einkaufszentrum / © Efrem Lukatsky (dpa)
Kiew: Eine Verkäuferin arbeitet mit dem Licht einer Taschenlampe bei einem Stromausfall in einem unterirdischen Einkaufszentrum / © Efrem Lukatsky ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie sind gerade in Isjum im Osten der Ukraine. Isjum liegt nördlich des Donbas und war sechs Monate lang, von März bis September 2022, von den Russen besetzt. Wie ist die Situation dort jetzt?

Waskowycz: Wenn man durch die Stadt fährt, sieht man sehr viele zerstörte Gebäude. Der Krieg hat so viele Spuren hinterlassen, dass er nicht vergessen werden kann. Wir sind heute an einem Haus vorbeigekommen, in das eine 500 Kilogramm schwere Bombe eingeschlagen ist: ein fünfstöckiges Wohnhaus und mittendrin ist diese Bombe eingeschlagen.

Heute ist da nur noch ein Krater von zwölf, fünfzehn Metern im Boden. Die Menschen hatten sich vor dem Luftangriff im Kellergeschoss versteckt. Später wurden 52 Leichen aus dem Keller geborgen. Mit diesen Erlebnissen lebt die Stadt. 

Und die sichtbaren Zeichen dieser Erlebnisse sind die zerstörten Häuser, die man jetzt zu reparieren versucht, damit die Menschen hier weiterleben können. Die Stadt ist sehr stark vom Krieg geprägt, obwohl die Kampfhandlungen hier bereits zwei Jahre zurückliegen.

Wir besuchen gerade Projekte der Diakonie Katastrophenhilfe, die übrigens auch aus Deutschland unterstützt werden. Es ist interessant zu sehen, wie die Partnerorganisation hier den Menschen helfen, ihre Häuser und Wohnungen wiederaufzubauen.

Isjum: Ein zerstörter russischer Schützenpanzer steht im Hof eines Ligusterhauses vor einer Kirche / © Evgeniy Maloletka (dpa)
Isjum: Ein zerstörter russischer Schützenpanzer steht im Hof eines Ligusterhauses vor einer Kirche / © Evgeniy Maloletka ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sechs Monate lag die Stadt in russischer Hand. Welche Spuren hat das bei den Menschen hinterlassen?

Waskowycz: Die Besatzung hat tiefe Spuren in der Psyche der Menschen hinterlassen. Man schätzt, dass etwa zehn Millionen Menschen in der Ukraine traumatisiert sind und psychologischer und psychosozialer Hilfe bedürfen. Sie sind traumatisiert von der Gewalt, die sie gesehen haben, von der Zerstörung, die sie erlebt haben.

Das betrifft die alten Menschen, aber auch die jüngeren und vor allem auch die Kinder. Wir lernen hier Kinder kennen, die aufgrund dessen, was sie erlebt haben, aufgehört haben zu sprechen. Es gibt viele Programme der Hilfsorganisationen, die diesen Kindern psychosozialen Beistand leisten. 

DOMRADIO.DE: Sie haben gesagt, dass unter diesen Umständen die EM eine willkommene Abwechslung, eine Flucht aus dem Kriegsalltag ist. Was würde es für die Ukrainer bedeuten, wenn sie weiterkommen?

Waskowycz: Das wäre natürlich sehr erfreulich, die Ukrainer identifizieren sich stark mit ihrer Mannschaft. Die Ukraine ist eine Fußballnation, wir haben 2012 die Europameisterschaft zusammen mit Polen ausgerichtet. Die Ukrainer verfolgen die Spiele sehr genau und es würde uns natürlich sehr, sehr stärken, wenn die Mannschaft weiter käme.  

DOMRADIO.DE: An diesem Freitag spielt die Ukraine gegen die Slovakei in Düsseldorf. Welches Ergebnis wünschen Sie sich?

Waskowycz: 2:1 für die Ukraine.

Das Interview führte Ina Rottscheidt.

Quelle:
DR