DOMRADIO.DE: Weinen und Lachen müssen sich nicht ausschließen, doch schon im Alten Testament steht, dass alles seine Zeit hat. Wie gehen Sie mit der Gleichzeitigkeit von Krieg und Karneval um?

Kreisdechant Guido Zimmermann (Kölner Domkapitular und Feldkaplan bei den Blauen Funken in Zülpich): Wann gab es schon eine Zeit ohne Krieg! Leider herrscht immer irgendwo auf der Welt gerade Krieg. Daher hat es auch diese Gleichzeitigkeit immer schon gegeben – nicht erst seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine oder dem Konflikt in Gaza. Ginge es danach, dürfte man eigentlich ja nie ausgelassen und fröhlich feiern.
Und vielleicht ist der Karneval – so paradox das auch klingt – eine der größten Friedensinitiativen überhaupt. Die Uniformen der Funken und der Garden sind ja eigentlich eine Persiflage auf die Militärs, die im Karneval statt Munition Röschen in ihren Gewehren stecken haben. Und es werden auch keine Bomben, sondern Kamelle geworfen und Raketen der Freude gezündet. Das ist doch ein schönes Friedenszeichen. Und so sehe ich den Karneval eher als eine große Friedensbewegung.

Als am Weiberfastnachtstag 2022 der Krieg in der Ukraine ausgebrochen ist, zog vier Tage später der Rosenmontagszug als eine große Friedensdemo durch Köln. Das fand ich damals sehr ergreifend. Deshalb kann man meines Erachtens Karneval auch in Kriegszeiten feiern, vielleicht sogar gerade dann. Denn da geht es um lachen gegen die Macht, feiern für Freundschaft und singen statt schießen.
DOMRADIO.DE: Und dennoch: Die Katastrophen in aller Welt, auch der Europa und Deutschland drohende Rechtsruck lassen sich nicht einfach wegschunkeln. Momentan löst eine Krise die nächste ab. Mit welcher Haltung lässt sich trotzdem feiern, ohne dass das kaltherzig denen gegenüber wirkt, die gerade nichts zu lachen haben?
Zimmermann: Nicht immer ist einem nach Feiern zumute, gerade wenn man sich akut um Andere sorgt. Das ist mir auch schon so ergangen, als einmal vor Karneval meine Mutter schwer erkrankte. Und grundsätzlich bedarf es unserer Empathie, wenn Menschen leiden und unsere Zuwendung gefordert ist.
Aber vor Jahren habe ich einmal im Fernsehen eine Beerdigung in New Orleans gesehen. Da ging eine Trauerkapelle, angeführt von einem Dirigenten, vor dem Sarg her; hinter dem Sarg kamen die Angehörigen. Die Musikgruppe spielte keine Trauermusik, sondern einen beschwingten Dixieland, und der Dirigent tanzte. Der tanzende Dirigent symbolisiert die befreite, erlöste Seele, die zu Gott geht und sich über das Leben in Ewigkeit freut.
Dieses Bild habe ich nie vergessen, weil es eigentlich doch dafür steht, dass wir einmal alle Freude haben dürfen, zur Freude berufen sind und dass die Freude das Letzte ist, das Gott uns schenken wird.
So gesehen, hat der Karneval vielleicht auch etwas Prophetisches. Das Leid, die Not, die Sorgen, die wir haben – das ist nicht das, was bleibt. Gott wird uns einmal eine große Freude schenken. Und dafür steht für mich symbolisch auch der Karneval.
Wie der tanzende Dirigent damals für die Angehörigen ein solches Zeichen der Freude war, so ist das auch der Karneval. Das Leid – der Tod – hat nicht das letzte Wort. Davon bin ich fest überzeugt.
An Weihnachten haben uns doch die Engel verkündet: Fürchtet euch nicht! Ja, wir brauchen uns nicht zu fürchten, weil Gott bei uns ist und mit uns lebt – gleichermaßen in Zeiten der Not und des Frohsinns, in Zeiten des Krieges und des Friedens.
DOMRADIO.DE: Die Teilnahme am Rosenmontagszug ist für Sie als Pastor ein "Muss". Wie politisch geht es da in Zülpich zu? In Köln gehört an Karneval ja zum Selbstverständnis, sich auch gegen Ungerechtigkeit oder Missstände zu positionieren und mit den Persiflagewagen mitunter klare Kante – sprich Haltung – zu zeigen…
Zimmermann: In Zülpich ist der Zug nicht so politisch wie in Köln, allenfalls wird mal die Lokalpolitik aufs Korn genommen. Trotzdem ist es wichtig, Position zu beziehen – im Karneval zum Beispiel gegen die Obrigkeit, gegen die Regierung, auch gegen Kirche. Umgekehrt ist es schade, dass der Karneval diese Dimension immer mehr verliert. Auf Sitzungen gibt es politische Beiträge kaum noch, höchstens noch in Mainz.

Aber der Kölner Sitzungskarneval verliert mehr und mehr dieses Politisch-Kritische, während der Rosenmontagszug in Köln, vor allem auch der in Düsseldorf mit den Wagen von Jacques Tilly mit seinen Statements gegen Krieg, aber eben auch die katholische Kirche, schon oft sehr scharf war. Aber das muss man sich dann auch gefallen lassen. Wenn wir für "Stoff" sorgen, muss man auch damit rechnen, dass andere daraus etwas machen.

Gleichzeitig werden ja auch wichtige Zeichen gesetzt: gegen Krieg, gegen Rechtsradikalität, gegen Extremismus. Auch das Kölner Dreigestirn selbst ist in diesem Jahr ja eine einzige Positionierung – in diesem Fall für eine bunte queere Welt. Egal, wie man dazu steht – solche Statements sind wichtig.
DOMRADIO.DE: Als gebürtiger Grevenbroicher wurden Sie nicht unbedingt mit der Narrenkappe geboren. Warum mischen Sie in der „fünften Jahreszeit“ so leidenschaftlich gerne mit?
Zimmermann: Grundsätzlich feiere ich gerne. Und da, wo ich herkomme, gibt es das Schützenwesen, mit dem ich groß geworden bin. Von daher freue ich mich, dass es auch in meinem Seelsorgebereich Schützenbruderschaften gibt. Das heißt, im Sommer feiern wir Schützenfeste und im Winter dann Karneval.
Gerade in Zülpich hat der Karneval eine große Bedeutung. Als Pastor könnte man am Karneval gar nicht vorbeigehen. Karneval gehört zur Stadt, er wirkt in die Stadtgesellschaft hinein. Das ganze Jahr über organisieren die Karnevalsvereine Feste; sie sind sozial aktiv, für die Menschen identitätsstiftend und prägen das Stadtbild. Jedes der vier Stadttore ist jeweils im Besitz eines Karnevalsvereins. Und wenn jemand aus dem Verein stirbt, wird an dem jeweiligen Tor auf Halbmast geflaggt.
Die Karnevalsvereine sind einfach total präsent. Die Blauen Funken machen die Musik zur Fronleichnamsprozession, während sich die anderen Karnevalsvereine beim Tragen des Himmels abwechseln. Auch am ersten Weihnachtstag spielen die Karnevalisten in der Messe. Einer der Höhepunkte ist die jährliche Mundartmesse. Kirche und Karneval sind bei uns ganz eng miteinander verwoben. Und da besteht dann auch ganz klar die Erwartung, dass ich mitfeiere, was mir aber natürlich überhaupt nicht schwerfällt, weil ich ja selbst so gerne feiere.
Vor ein paar Jahren habe ich von den Zülpichern Karnevalsvereinen mal eine ganz besondere Mütze mit allen Farben der Vereine als Zeichen der Verbundenheit bekommen. Das habe ich als große Auszeichnung empfunden.
DOMRADIO.DE: Steigen Sie denn auch schon mal selbst in die Bütt?
Zimmermann: Ich trete selbstverständlich bei unserer Pfarrsitzung auf und in unserem kleinsten Dorf Zülpich-Merzenich, wo eine Sitzung nur mit eigenen Kräften gestemmt wird. Da bin ich dann auch mit von der Partie. Sonst aber überlasse ich das Feld gerne den anderen.
DOMRADIO.DE: Wie wichtig ist Humor – auch in der Kirche, in der es gerade nicht viel zu lachen gibt?
Zimmermann: Vor etwa 100 Jahren muss Kardinal Schulte im Amtsblatt des Erzbistums ein Karnevalsverbot veröffentlicht haben, womit er sich allerdings nicht durchsetzen konnte. Da bin ich ganz froh, weil Karneval und Kirche einfach total zusammengehören.

Karneval ist eine Verlängerung des Weihnachtsfestes. Was wir Weihnachten feiern – Gott kommt zu uns, er schenkt uns eine tiefe Freude – bringen wir Karneval auf die Straße. Der Büttenredner und Diakon Willibert Pauels zitiert immer wieder die Filmfigur Pater Brown aus den Krimis von Gilbert Chesterton: "Humor ist eine Erscheinungsform der Religion, nur wer über den Dingen steht, kann sie belächeln."
Humor sollte eine Grundeigenschaft des Christen sein, denn uns ist ja eine frohe Botschaft geschenkt worden. Die Botschaft, die Jesus uns hinterlassen hat, soll uns Freude geben. Natürlich gibt es immer wieder Zeiten – wie gesagt – in denen man nicht froh sein kann, wenn man von Leid betroffen ist, aber von seiner Grundhaltung her sollte ein Christ optimistisch in die Welt blicken, sich selbst nicht zu wichtig nehmen und auch über sich lachen können.
Ein Christ ist sich auch immer der eigenen Schuld bewusst. Er ist nicht perfekt und schon gar nicht der Nabel der Welt. Wir haben doch alle unsere Schwächen, damit muss man von daher auch menschlich umgehen – und eben auch mal drüber lachen.
DOMRADIO.DE: In den nächsten Tagen treten Sie in die heiße Phase ein. Werden die Zülpicher ihren Pfarrer denn dann noch wiedererkennen? Was ist Ihr Lieblingskostüm?
Zimmermann: Kaum, dass ich vor 20 Jahren in Zülpich angekommen war, hatte man mir auch schon die Ehrenaufgabe angetragen, Feldkaplan der Blauen Funken Zülpich zu sein. Deshalb trage ich mit Stolz die Uniform der Blauen Funken. Ich darf Rosenmontag auf dem Funken-Wagen mitfahren und nehme mir dann auch die Zeit, am Sonntag und Montag mit allen Funken zu feiern.
Wenn ich dann aber schon mal auf den Dörfern oder zu Sitzungen in Köln unterwegs bin, liebe ich es, ins Kostüm der kölschen Originale Tünnes und Schäl oder des Hänneschen zu schlüpfen, weil ich den urigen Kölschen Karneval am schönsten finde, zumal das so bodenständige Charaktere sind.

Was ich nicht mag, ist die Seite des Karnevals, wo dann vor allem viel getrunken und Party gemacht wird. Karneval aber ist mehr als Party. Karneval ist etwas Tiefgründiges, zum Teil sogar Melancholisches. Da fließen auch schon mal Tränen – je nach dem, welches kölsche Lied gesungen wird.
Nicht zuletzt kann Karneval auch derb sein – selbst das gehört dazu. Aber vor allem ist Karneval Gemeinschaft. Und die steht für uns Christen bekanntlich im Zentrum.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.