DOMRADIO.DE: Herr Freund, als die ersten Züge mit geflüchteten Menschen aus der Ukraine angekommen sind und sie am Breslauer Platz – auch zwecks Registrierung – von Mitarbeitern der Stadt und Ehrenamtlichen begrüßt wurden, um dann in Sammelunterkünfte weitergeleitet zu werden, haben Sie diese Menschen in den Deutzer Messehallen betreut. Was haben Sie da erlebt?
Nils Freund (Sozialarbeiter im Caritasverband für die Stadt Köln und Integrationsbeauftragter der „Aktion Neue Nachbarn“): Natürlich handelt es sich hier um ein sehr dynamisches Geschehen, bei dem viele Kolleginnen und Kollegen von der Ortscaritas, der Diakonie und auch dem Roten Kreuz im Einsatz sind, um sich um die Neuankommenden zu kümmern und bei ersten wichtigen Fragen Ansprechpartner zu sein. Zunächst muss man anerkennen, dass die Stadt sehr kurzfristig solche Sammelunterkünfte in Deutz, in Mülheim und in Ostheim eingerichtet hat und dann auf die Wohlfahrtsverbände zugekommen ist, weil wir nun mal die Fachkenntnisse in Migrationsarbeit mitbringen. Anders als medial zum Teil vermittelt, ist die Messehalle 3, wo bis zu 1000 Menschen unterkommen können, auch nur eine Interims- und keine Dauerlösung. Das heißt, wer hier aufgenommen wird, bleibt höchstens zwei Tage, so dass das Ganze wie ein Drehkreuz funktioniert.
Von hier aus werden die Menschen so schnell wie möglich auf andere Kommunen oder Unterkünfte in Köln verteilt, zum Beispiel auf die 1400 angemieteten Hotelplätze. Und es ist auch nicht so, dass die Belegung der Messehalle immer voll ausgeschöpft wird. Mal sind 300 Menschen da, mal 800, am nächsten Tag dann vielleicht 1000. Täglich finden Verlegungen innerhalb ganz Nordrhein-Westfalens statt. Die grundsätzliche Schwierigkeit ist: Es gibt keine kontrollierte Flucht. Das heißt, wir rechnen mit vielen Unbekannten, müssen jederzeit flexibel sein. Dafür – das muss man einfach sagen – funktioniert die Basisversorgung wirklich recht gut. Am Breslauer Platz erhalten die Menschen eine erste Orientierung, hier wird ein Corona-Test gemacht und viele Ehrenamtliche geben Essen aus. Auch Dolmetscher stehen zur Verfügung. In einem zweiten Schritt werden die Geflüchteten dann mit Bussen zu den Notunterkünften gefahren.
DOMRADIO.DE: Wie erleben Sie die Menschen?
Freund: Manche waren zwei Wochen auf der Flucht, andere zwei Tage. Aber traurig und vom Krieg gezeichnet sind eigentlich alle. Was mich zunächst am meisten irritiert hat, ist, wie ruhig es in der Messehalle doch zugeht. Die Atmosphäre ist sehr gedämpft. Alle sind dankbar, einmal Luft holen und durchatmen zu können, während ihre Gedanken zuhause bei den noch ausharrenden Angehörigen oder den kämpfenden Männern, Brüdern und Söhnen sind, die das Land nicht mehr verlassen dürfen. Daher sind Sim-Karten zum Telefonieren, die kostenlos verteilt werden, ganz wichtig. Es ist ein erstes Ankommen und bei manchen hat die Tatsache „Ich bin auf der Flucht“ noch gar nicht das Bewusstsein erreicht. Wir sind dann vor allem dazu da, Empfehlungen bei dem zu geben, was diese Menschen auch selber in die Hand nehmen können, indem wir zum Beispiel auf kostenlose Fahrten mit der KVB hinweisen oder darauf, wo sie Wäsche waschen oder sich Kleidung bei den dafür ausgewiesenen Stellen besorgen können.
Eine ukrainische Studentin erzählte mir, dass sie am Abend vor ihrer Flucht noch mit Freunden am Küchentisch ihrer WG saß, ein Glas Wein getrunken hat und dann völlig unvermittelt das Nachbarhaus explodiert ist. Als der Zivilschutz sie dann zum Verlassen ihrer Wohnung aufforderte, hatte sie genau fünf Minuten Zeit, um völlig in Panik das Notwendigste zusammenzupacken und sich von ihrem bisherigen Leben zu verabschieden. Gedanklich aber, so berichtete sie, sitze sie selbst Tage später noch immer an ihrem Küchentisch. Und wie ihr geht es vielen Flüchtlingen. Sie realisieren noch nicht, dass die momentane Situation einen dauerhaften Verbleib in Deutschland andeutet und sie erst mal nicht nach Hause zurück können. Hier ist noch ganz viel Transferleistung notwendig. Die meisten sind noch in der Heimat verankert, wo ihre Angehörigen geblieben sind. Ohne ihre Männer und Söhne wollen die Frauen alleine die nächsten Schritte aber nicht gehen. Ihr Leben hier bestimmen die Nachrichten aus Charkiw, Kiew oder Mariupol. Aber wie gesagt, mitunter ist es bedrückend still. Alle sind geduldig und überhaupt nicht fordernd. Was alle umtreibt, ist, schnellstmöglich ihre Verwandten ausfindig zu machen. Das ist natürlich eine große Herausforderung. Aber auch dabei assistieren wir, wenn es darum geht, Zugverbindungen herauszusuchen oder Kontakte herzustellen.
DOMRADIO.DE: Wie sieht der Alltag in der Messehalle aus?
Freund: Der Tagesablauf hat mit dem Angebot von täglich drei Mahlzeiten eine feste Struktur, was wichtig ist. In der Messehalle stehen Container, also abgeschlossene Wohnbereiche mit vier Betten auf etwa 20 Quadratmetern, die einen kleinen privaten Rückzug ermöglichen. Auch Duschen sind vorhanden. Es gibt eine Ausgabestelle für Hygieneartikel und eine ständige Versorgung mit Getränken und Snacks. Für alles Äußere ist also gesorgt. Hilfreich für die Unterstützerinnen dort ist außerdem, wenn die Menschen registriert sind, man also weiß, wer sich wo befindet und auch wieder weiterreist, weil dann eine Wohnkabine für die nächste Familie frei wird. In diesem Zusammenhang ist sehr bedauerlich, dass es in Köln keine zentrale Wohnraumvermittlung – so etwas wie eine Börse – gibt, zumal wir als Wohlfahrtsverband viele Wohnangebote bekommen, aber eben noch keinen Überblick haben, wer Wohnraum sucht. Dabei wünschen sich die Geflüchteten vor allem eine Unterkunft mit einem angeschlossenen Hilfesystem, an das sie andocken können. Natürlich brauchte man für ein solches Drehkreuz Personalressourcen, und möglicherweise hat die Stadt auch Angst vor unseriösen Vermittlungen, was ja wirklich auch ein Problem darstellt. Aber eine solche Börse, die Angebot und Nachfrage regelt, würde schneller privaten Wohnraum generieren, zumal es so viele Menschen gibt, die hier ihre Hilfe anbieten. Das läuft gerade vorwiegend über private Kanäle: dass jemand hört, wenn jemand ein Zimmer oder eine Einliegerwohnung zur Verfügung stellen kann und Geflüchtete aufnehmen will. Hier müsste eine zentrale Steuerung her, die entlasten und auch den Druck herausnehmen würde, weil Angebot und Nachfrage sonst nicht zueinander finden und sich viele Anbieter wundern, dass ihr Angebot nicht abgerufen wird.
Solche bürokratischen Probleme werden sich demnächst noch verschärfen, weil ja noch sehr viel mehr Menschen aus der Ukraine zu uns kommen werden, was unsere Behörden früher oder später überfordern wird. Es geht ja nicht nur um eine Grundversorgung – die Ausstattung mit Finanzmitteln, die Besorgung von Kita- und Schulplätzen für die vielen Kinder – sondern darüber hinaus um Bildungsangebote für die Erwachsenen in Form von Deutschkursen oder die Vermittlung in den Arbeitsmarkt, wollen wir diese Menschen dauerhaft integrieren. Gerade die Kinder sind ein wichtiger Bestandteil von Integration. Sie lernen die Sprache schneller und knüpfen auch rascher Freundschaften. Von daher ist es wichtig, umgehend Strukturen zu schaffen, die Kindern dieses Ankommen ermöglichen. Das kann man nicht nur auf zivilgesellschaftlichem Engagement schultern oder hoffen, dass Kirchengemeinden hier einspringen.
DOMRADIO.DE: Sie haben das 2015 schon einmal erlebt – diese Hilflosigkeit, dieses Ausgeliefertsein und diese Traumata, die die Menschen in der damaligen Flüchtlingskrise mitgebracht haben…
Freund: Und doch ist es diesmal anders. Damals kamen oft die Männer – zum Beispiel aus Syrien und Afghanistan – und holten ihre Familien nach. Heute ist es genau umgekehrt. Es kommen vor allem Frauen mit ihren Kindern, die mit dem Herzen bei ihren Männern in der Ukraine geblieben sind, wohin sie auch möglichst schnell zurückwollen, weil es eine starke Heimatbindung gibt. Außerdem sind viele zunächst aus dem Osten der Ukraine in den Westen geflohen, weil es hier noch vergleichsweise ruhig war. Nun ist es mittlerweile auch in diesem Teil des Landes unsicher, so dass es sie weiter nach Moldawien, Ungarn, Rumänien, Polen oder die Slowakei zieht, wo aber die Fluchtunterkünfte bereits an ihre Grenzen stoßen. Diese Länder fungierten für Deutschland bislang als Puffer. Das wird sich aber absehbar ändern. In Köln sind bereits jetzt mehr als 4.500 Ukrainer offiziell angekommen. Und die Dunkelziffer liegt noch weitaus höher.
DOMRADIO.DE: Sie sind nah an den Geflüchteten dran. Was benötigen diese am meisten?
Freund: Zunächst haben wir uns gewundert, warum sich die Menschen schwertaten, das Angebot einer Unterbringung in Notunterkünften anzunehmen, bis wir feststellten, dass Gerüchte kursierten, auf ein Bett kämen zwölf Geflüchtete. Inzwischen stellen wir fest, dass sie erst einmal durchschnaufen wollen und vorrangig damit beschäftigt sind zu verstehen, was gerade geschieht. Die meisten sehnen sich nach Ruhe und Privatsphäre. Sie sind froh, in abgeschlossenen Wänden unterzukommen und nicht mehr um ihr Leben fürchten zu müssen. Das Getriebensein hört auf. Einige – gerade die Männer, die fliehen konnten – sind auch krank und benötigen Medikamente, die sie auf der Flucht nicht hatten. Hinzu kommt natürlich – was im Moment aber noch nicht unbedingt Priorität hat – dass viele therapeutische Hilfe zur Traumabewältigung benötigen und es schon jetzt kaum freie Plätze dafür gibt.
Ganz furchtbar ist natürlich – und da spielen sich verständlicherweise Dramen ab – wenn es Verlustmeldungen gibt. Zweimal habe ich erlebt, dass die Nachricht kam, Angehörige seien getötet worden. Was mache ich da? Dann ist der Krieg mit einem Mal nicht mehr nur abstrakt, sondern real. Ein solches Erlebnis macht deutlich, wie unbarmherzig dieses Geschehen ist und dass wir uns auf diese brutale Konfrontation mit Leid und Verzweiflung vorbereiten müssen. So etwas kann natürlich auch im privaten Raum passieren. Und dann müssen wir als Gesellschaft, die diese Menschen aufnimmt, klar haben, dass der Umgang mit Trauer und Schmerz von Menschen, die ihre Angehörigen verlieren, dazu gehört.
DOMRADIO.DE: Als Integrationsbeauftragter der 2015 vom Bistum ins Leben gerufenen „Aktion Neue Nachbarn“ sind Sie mittlerweile in der Flüchtlingsarbeit sehr erfahren. Machen Sie dennoch einen Lernprozess durch?
Freund: Man muss das Rad nicht neu erfinden, zumal die Grundthemen dieselben sind wie vor knapp sechseinhalb Jahren. Wir haben damals tragfähige Kommunikationsstrukturen zwischen Haupt- und Ehrenamt sowie zwischen den einzelnen Trägern geschaffen, so dass wir auf diesen wertvollen Ressourcen – die Stärkung des Ehrenamtes oder die Abkürzung bürokratischer Wege – auch jetzt wieder aufbauen können. Wir wünschen uns ja, dass diese Menschen an Köln andocken können, sich in unserer Stadt willkommen fühlen. Deshalb arbeiten wir mit unserer ganzen Kraft daran, dass sie hier Fuß fassen können. Ich glaube, dass wir Willkommenskultur auch wirklich gut können. Möglicherweise müssen wir manches Angebot neu justieren oder auch erst schaffen, weil zum Beispiel jetzt die Männer fehlen, wir uns also verstärkt auf die Bedürfnisse der Frauen und Kinder konzentrieren müssen und auch der Schockmoment diesmal größer ist. Da müssen wir aufmerksam sein. Aber im Großen und Ganzen können wir auch auf unsere Erfahrungen zurückgreifen.
Und wir müssen einander verstehen lernen, weil es sich am Ende doch – auch wenn uns dieses osteuropäische Land vielleicht näher als Syrien oder Afghanistan ist – um eine andere Kultur und einen anderen Glauben handelt. Trotzdem dürfen wir die Flüchtlinge von damals nicht gegen die von heute ausspielen und über der Solidarität für die Ukrainer die vielen anderen vergessen, die auch noch auf unsere Hilfe angewiesen sind und ebenfalls nicht in ihre Länder zurück können.
DOMRADIO.DE: Wo sehen Sie absehbar die größten Herausforderungen?
Freund: Nochmals: Ein Lob an die Stadt, die wirklich binnen kürzester Zeit eine umfassende Notfallversorgung der vielen ankommenden Flüchtlinge hinbekommen hat. Dennoch würde ich mir einen barrierefreieren Zugang zu den Behörden wünschen bei den Fragen beständiger Angebote wie beispielsweise einer psychologischen Beratung oder der Vermittlung von Therapie-, Kita- oder Schulplätzen. Außerdem muss mehr noch als bisher das zivilgesellschaftliche Engagement unterstützt werden. Die Stadt hat die Krise bislang gut gemanagt, aber ich befürchte, dass in der Bürokratiemühle demnächst noch dicke Bretter gebohrt werden müssen. Denn das, was wir gerade erleben, ist erst die Spitze des Eisbergs. Demnächst stehen vor unserer Haustür möglicherweise eine Million Geflüchtete aus der Ukraine. In diesem Kontext kann ich alle potenziellen Helfer nur dazu aufrufen, sich an die vielen Integrationsbeauftragten der „Aktion Neue Nachbarn“ zu wenden und auf deren Netzwerke weiterführender Hilfen zurückzugreifen. Dafür sind wir schließlich da.
DOMRADIO.DE: Die momentane Fluchtbewegung wird als die größte seit dem Zweiten Weltkrieg deklariert. Ich stelle es mir nicht leicht vor, immer mit Menschen zu tun zu haben, die heimatlos geworden sind und vor den Trümmern ihres Lebens stehen
Freund: Die Menschen sind nicht wirklich heimatlos, sie tragen ja ihre Heimat und auch Wünsche und Hoffnungen weiter in sich. Die Arbeit mit geflüchteten Menschen ist keine Einbahnstraße. Als aufnehmende Gesellschaft können und sollten wir uns auch auf unsere neuen Nachbarn einlassen, die Kulturen, Sprachen und Gebräuche kennenlernen und anerkennen. Das Thema Flucht und Migration wird uns auch in Zukunft immer begleiten. Deshalb wird die Stadt damit rechnen müssen, dass es morgen immer noch ein bisschen herausfordernder wird, eben weil weltweit die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht – wenn ich da an die afrikanischen Bootflüchtlinge denke – und soziale Ungerechtigkeit zunimmt. Früher ist man ins Nachbarland geflüchtet, aber heute – wir sehen es ja – fliehen die Menschen über ganze Kontinente. Ich bin mir sicher: Das Thema Flucht wird uns nicht mehr loslassen.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti