"Nichts und niemand kann erlittenen Missbrauch ungeschehen machen. Häufig fühlen Kinder während des Übergriffs völlige Hilflosigkeit und sogar Todesangst. Angst, die noch Jahrzehnte später plötzlich und unkontrollierbar wach wird."
Elisabeth Lammert, Vizevorsitzende der Freiburger Aufarbeitungskommission und Fachärztin für Psychiatrie, beschrieb bei der Vorstellung des Missbrauchsberichts eindringlich die seelischen Folgen von sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige.
Jahrzehntelang ignorierten die Führungsverantwortlichen im Erzbistum Freiburg diese Perspektive und das Leid der Opfer. Dies ist eine der belastendsten Erkenntnisse des 600-seitigen Untersuchungsberichts.
Selbst die professionell-nüchternen Autoren des Berichts, zwei Juristen und zwei Kriminalbeamte im Ruhestand, sagten, die Recherchen hätten sie vielfach fassungslos und sprachlos gemacht.
Alterzbischof Zollitsch in der Kritik
Beispielsweise wenn Robert Zollitsch die Härte und Konsequenz des Kirchenrechts voll ausschöpfte, um gegen einen Priester vorzugehen, der einvernehmliche sexuelle Beziehungen zu Frauen unterhielt. Und gleichzeitig Hinweise auf Kindesmissbrauch vertuschte und die Täter schonte. "Ich muss davon ausgehen, dass Erzbischof emeritus Robert Zollitsch Kindesmissbrauch als weniger gravierend einstufte als einvernehmlichen Sex", sagte Studienautor Eugen Endress.
Das Expertenurteil hätte kaum vernichtender ausfallen können. Vor allem über die früheren Erzbischöfe Oskar Saier und Robert Zollitsch.
Ihnen attestiert der Bericht wissentliche und systematische Missachtung des Rechts, Täterschutz, um vermeintlich Schaden von der Institution Kirche abzuwenden, sowie Kälte und Ignoranz gegenüber den Opfern.
Tage nach der Veröffentlichung ist im Erzbistum noch immer eine Art Schockstarre zu spüren. Dennoch hat die Diskussion begonnen, was aus dem schonungslosen Aufarbeitungsbericht folgen muss. Nicht nur für das Erzbistum.
Vatikan untersucht Zollitschs Fehlverhalten
Zollitschs Fehlverhalten muss nun der Vatikan untersuchen. Erzbischof Stephan Burger hat die Untersuchungen bereits vor längerem mit einer Anzeige gegen seinen Amtsvorgänger angestoßen.
Vermutlich wird sich der Vatikan mit der Bearbeitung und einem Urteil Zeit lassen. Der Fall dürfte aus Sicht Roms keine Priorität besitzen, weil Zollitsch längst emeritiert ist.
Die Ölgemälde-Ahnengalerie mit allen Erzbischöfen des 1827 gegründeten Erzbistums hat Burger inzwischen abhängen lassen.
Zollitsch hat erklärt, anders als alle bisherigen Erzbischöfe nicht im Münster der Stadt beigesetzt werden zu wollen. Ansonsten schweigt er. Debattiert wird indes, ob nach Oskar Saier benannte Häuser, etwa ein Caritas-Seniorenzentrum in Kirchzarten, umbenannt werden müssen.
Bätzing zeigt sich erschüttert
Weniger greifbar ist, wie die Deutsche Bischofskonferenz auf den Bericht reagiert. Bischof Georg Bätzing zeigte sich erschüttert.
Zugleich übt der Bericht auch Kritik am langjährigen Bischofskonferenz-Sekretär Pater Hans Langendörfer. Ihm wird beispielsweise vorgeworfen, nicht auf nähere Auskünfte zum Umgang mit Missbrauch im Bistum des damaligen Konferenzvorsitzenden Zollitsch bestanden zu haben. Langendörfers Rundschreiben, das 2010 alle Diözesen zu statistischen Auskünften über die Aufarbeitung aufforderte, hatte Freiburg nie beantwortet.
Langendörfer war es auch, der fast in der gesamten Amtszeit des Vorsitzenden Kardinal Karl Lehmann als Sekretär der Konferenz diente.
Auch dem Mainzer Kardinal wurde im Missbrauchsbericht seines früheren Bistums bescheinigt, zunächst keinerlei Empathie für die Opfer gezeigt zu haben.
Neues Licht fällt auch auf die scharfe Kritik der damaligen Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) an fehlendem Aufarbeitungswillen der Kirche: So dokumentiert die Studie, dass Zollitsch erst am 25. April 2014 eine kirchenrechtliche Voruntersuchung gegen Beschuldigte einleitete und nach Rom meldete.
Obwohl er als Konferenzvorsitzender immer wieder öffentlich zur Einhaltung entsprechender Leitlinien aufgerufen hatte. "Ist das im Vatikan wirklich niemandem aufgefallen?", so die rhetorische Frage der Studienautoren.
Dass es anders hätte gehen können, beweist die etwa einjährige Interimsphase zwischen Saier und Zollitsch: Der damalige Diözesanadministrator, Weihbischof Paul Wehrle, setzte laut Bericht die seit 2002 geltenden Leitlinien zur Aufarbeitung konsequent um, berief einen Missbrauchsbeauftragten und eröffnete ein kirchliches Verfahren gegen einen Ständigen Diakon, der eine geistig behinderte, jugendliche Person missbraucht hatte. Nach Zollitschs Wahl zum Erzbischof, so analysiert es der Bericht, endete diese Phase abrupt.
Konkrete Vorschläge an die Bistumsleitung formulieren
Der Vorsitzende der unabhängigen Aufarbeitungskommission, der Freiburger Theologe Magnus Striet, kündigte wenige Tage nach der Berichtveröffentlichung an, bis Jahresende konkrete Vorschläge an die Bistumsleitung zu formulieren, um Kinder und Jugendliche besser vor Missbrauch zu schützen. Dabei gehe es beispielsweise um die Kontrolle von Macht in der Kirche, bessere Ausbildungsstrukturen für Seelsorger und die Begleitung von Priestern in ihrem Arbeitsalltag.
Ein weiteres Feld hat der Bericht - so wie die vorausgegangene Studie im Bistum Mainz - in den Fokus gehoben: der Umgang mit Missbrauchsvorwürfen gegen Pfarrer in den Kirchengemeinden.
Auch dort wurde Opfern nicht zugehört oder sogar versucht, sie mundtot zu machen. Die Studienautoren beschrieben, wie die Mutter eines missbrauchten Kindes in ihrer Kirchengemeinde angefeindet wurde.
Die Studie schlägt 15 konkrete Handlungsempfehlungen für die aktuelle Bistumsleitung vor: Etwa eine konsequentere Überwachung der Auflagen für verurteilte Täter, regelmäßigere Fortbildungen für Kirchenmitarbeiter, klarere Kommunikation mit Missbrauchsbetroffenen und die Einrichtung eines zentralen, interdiözesanen Kirchengerichts für Strafsachen nach dem Vorbild der katholischen Kirche in Frankreich.
Burger kein Fehlverhalten vorzuwerfen
Der amtierende Erzbischof Burger ist also in vielen Bereichen gefragt, die über das Entfernen der Zollitsch- und Saier-Porträts hinausgehen.
Dabei kann er persönlich sich durch den Bericht gestärkt sehen. Denn die Autoren betonen immer wieder, dass Burger nach seiner Bischofswahl die Aufarbeitung, das Zuwenden zu den Opfern und die Stärkung von Prävention zur Chefsache gemacht hat. Auch in seiner Zeit als Offizial sei ihm kein Fehlverhalten vorzuhalten. Gleichwohl räumte Burger selbstkritisch ein, er hätte schon unter Zollitsch energischer auf Aufklärung drängen müssen.
Auch der Betroffenenbeirat anerkennt Burgers Haltung. Etwa auch zur unbürokratischen Zahlung monatlicher Finanzhilfen für Missbrauchsopfer, die am Rande des Existenzminimums leben.