Wie Polen mit dem Missbrauchsskandal umgeht

"Kein Wille zur Aufklärung"

Trotz Missbrauchsskandal und kommunistischer Vergangenheit gehört Polen immer noch zu den katholischsten Ländern Europas. Aber die Krise brodelt, sagt die Journalistin Paulina Guzik. Das böse Erwachen erwartet sie erst in Zukunft.

Trotz Missbrauchsskandal gehört Polen immer noch zu den katholischsten Ländern Europas / © N.N. (shutterstock)
Trotz Missbrauchsskandal gehört Polen immer noch zu den katholischsten Ländern Europas / © N.N. ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Unter dem Kommunismus ist der Einfluss der Religion in fast allen Ländern des Ostblocks zurückgegangen. Polen ist die große Ausnahme, hier betrachten sich immer noch rund 90 Prozent der Bevölkerung als katholisch. Warum? Wie konnte die Glaubensbindung diese Zeit überstehen?

Paulina Guzik (polnische Journalistin, Auslandsredakteurin des US-Magazins OSV News): Ich glaube, die einfachste Antwort darauf ist Tradition. Wir sind in meiner Generation zu über 90 Prozent katholisch getauft. Ich bin 1983 geboren. Auch in unserer Generation lassen die meisten ihre Kinder noch taufen. Das heißt nicht unbedingt, dass die Kinder noch im katholischen Sinne fromm erzogen werden, aber sie werden immer noch getauft, weil das einfach Tradition ist.  

Man muss auch sagen, dass die Kirchen in Polen immer noch relativ voll sind. Die Sonntagsmessen sind gut besucht, die Wochentage vielleicht nicht so sehr. Hier bei uns in Krakau, wo ich lebe, gibt es in der Innenstadt alle hundert Meter eine Kirche und die sind alle sehr gut besucht.

Es wird ja immer wieder behauptet, es gäbe in Polen eine große Säkularisierungsbewegung. So ganz stimmt das aber nicht, zumindest nicht in einem großen Ausmaß. Natürlich gibt es einen schleichenden Prozess der Abwendung von der Kirche, aber ein großer Teil des polnischen Volkes ist immer noch im Glauben gefestigt.

Polen ist tief verwurzelt in christlichen und katholischen Traditionen. Die großen Feste wie Ostern oder Weihnachten werden im Land eigentlich nur in der katholischen Tradition gefeiert. Tage wie Mariä Himmelfahrt, der Dreikönigstag oder Pfingsten sind arbeitsfreie Tage. Die Geschäfte sind zu und die Menschen haben frei. Jedes katholische Fest ist auch immer ein Fest für die ganze Nation. Es wird gesagt, das hat nur mit unserer christlich-konservativen Regierung zu tun. Was dabei verschwiegen wird, ist, dass das Volk es so will und sehr froh ist über diesen Beschluss. So können sie nämlich die katholischen Feste mit ihren Familien feiern.

Paulina Guzik

"Polen ist ganz klar im katholischen Glauben verwurzelt."

Ich will hier nicht unrealistisch rüberkommen. Es ist nicht so, dass wir in der polnischen Kirche keine Probleme hätten, aber Polen ist ganz klar im katholischen Glauben verwurzelt, und das ist auch sichtbar in unserem Land.

Gottesdienst in Polen (Archivbild) / © Kasia Strek (KNA)
Gottesdienst in Polen (Archivbild) / © Kasia Strek ( KNA )

DOMRADIO.DE: Schauen wir auf diese Säkularisierungsprozesse. Obwohl die Zahl der Gläubigen und Gottesdienstbesucher auf einem hohen Niveau liegt, nimmt sie konstant ab. Auch das Vertrauen in der Bevölkerung geht zurück. Das merken wir zum Beispiel an den Protesten um das polnische Abtreibungsverbot oder den Aufschrei nach dem Missbrauchsskandal. Sie sagen, Polen ist tief im Glauben verwurzelt, aber Irland war das vor dem Missbrauch auch und dort ist die Kirche zu einer verschwindenden Minderheit geworden. Kommt so etwas auch auf Polen zu?

Guzik: Wie gesagt: Die Säkularisierung findet statt und der Missbrauchsskandal ist einer der Hauptgründe dafür. Die Menschen verlieren ihr Vertrauen in die Kirche, das sehen wir auch in Umfragen. Ich habe die genauen Zahlen nicht im Kopf, aber die Umfragen zeigen einen Vertrauensrückgang von 20 oder 25 Prozent in nur wenigen Jahren. Ich sehe darin eine große Krise der Kirche in Polen.

Für viele Jahre haben wir gesagt, Missbrauch ist kein Problem in Polen, das sei es in anderen Ländern. Wir haben das eher in den angelsächsischen Ländern gesehen, wir hatten ja so viele vorbildliche Priester, die so etwas nie machen würden. Gerade im Kommunismus gab es viele, die ein vorbildliches Leben geführt haben.

Heute merken wir, dass das schlicht und einfach nicht wahr gewesen ist. Schon früh gab es Stimmen, die uns gewarnt haben: Auch ihr seid gegen dieses Problem nicht immun, alle Kirchen in der Welt werden diesen Skandal durchmachen müssen. Eure Zahlen werden genau so aussehen wie in anderen Ländern. Das Problem ist, dass die Priester und Bischöfe diesen Stimmen nicht geglaubt haben.

Das große Erwachen kam für uns im Jahr 2018, als eine große Fernsehdokumentation über den Missbrauch in der polnischen Kirche veröffentlicht wurde. Man kann nicht überbetonen, was das für ein Schlag für die polnische Kirche war. Die Gläubigen haben realisiert, dass sie über Jahrzehnte belogen wurden. Uns wurde vorgegaukelt, dass das Missbrauchsproblem in Polen nicht existiert, während unsere eigenen Kinder dieser Gefahr selbst ausgesetzt waren. Ich glaube, was die Menschen aber am meisten verletzt hat, ist, dass die Täter nie wirklich strafrechtlich verfolgt wurden.

Paulina Guzik

"Die Gläubigen haben realisiert, dass sie über Jahrzehnte belogen wurden."

Das hat in der polnischen Kirche ein regelrechtes Erdbeben ausgelöst. Spätestens dann haben auch die Bischöfe gemerkt, dass sie auf diesen Skandal reagieren müssen.

Vergleichen wir diese Situation mal mit Amerika: Als dort die "Spotlight"-Berichte des Boston Globe veröffentlicht wurden, gab es einen ähnlichen Aufschrei. Dort wurde allerdings sofort gehandelt. Dort wurden Kommissionen gegründet, Papiere ausgearbeitet und Ermittlungsverfahren aufgenommen.

In Polen stecken wir jetzt schon fünf Jahre in dieser Krise und bei uns ist nichts Derartiges passiert. Wir sind noch ganz am Anfang unserer Aufarbeitung. Das ist das große Problem, dass diese Prozesse bei uns extrem langsam anlaufen.

Wir haben Institutionen, die damit befasst sind, wo Menschen sitzen, die sehr gute Arbeit leisten. Da ist der Primas von Polen zu nennen, Wojciech Polak, Erzbischof von Gniezno. Er hat ein Kinderschutzbüro eingerichtet. Es gibt die St. Josef-Stiftung, die über 70 Opfern hilft, ihnen die Therapie bezahlt. Das Geld dafür kommt aus den Taschen der polnischen Priester, so was ist weltweit einmalig.

Paulina Guzik

"Wir wissen nicht, welche Täter wie bestraft wurden. Es gibt bis heute keine Studie. Schlichtweg fehlt einfach die Transparenz."

Trotzdem ist die Krise für die Gläubigen immer noch ungeklärt, auch weil wir schlicht und einfach die Zahlen und Ausmaße nicht kennen. Wir wissen nicht, welche Täter wie bestraft wurden. Es gibt bis heute keine Studie. Schlichtweg fehlt einfach die Transparenz.

Wir sind jetzt gerade daran, eine Kommission einzusetzen, die die Vergangenheit und die Ausmaße und Ursachen des Missbrauchs in der Kirche aufarbeiten soll. Wir sind aber noch ganz am Anfang, da die Bischofskonferenz noch dabei ist auszuarbeiten, wie diese Kommission aussehen und arbeiten soll. Es wird also noch lange Jahre dauern, bis wir den Missbrauchsskandal in Polen aufgearbeitet haben.

DOMRADIO.DE: Da gibt es ja einige Parallelen zu Deutschland. 2018 wurde in Deutschland die MHG-Studie veröffentlicht. Seitdem ist das Ansehen der katholischen Kirche im freien Fall. Hunderttausende Menschen treten jedes Jahr aus der Kirche aus. – Erwarten Sie eine ähnliche Entwicklung auch für Polen?

Guzik: Wir sehen auf alle Fälle Zeichen der Ungeduld. Vor allem die jüngere Generation verliert die Geduld mit der Kirche. Den jungen Leuten ist sehr bewusst, was in der Kirche gerade abgeht. Man merkt, dass die Kirche gar keinen Willen zur Aufklärung zeigt. Es braucht Jahre, bis alleine die Entscheidung fällt, eine Kommission zu gründen. Die jungen Leute werden ungeduldig.

Paulina Guzik

"Man merkt, dass die Kirche gar keinen Willen zur Aufklärung zeigt."

Ein Beispiel: Als ich im Teenager-Alter war, ging die ganze Klasse zum Religionsunterricht. Das war einfach der Standard. In der Schule meiner Kinder sind es noch die Hälfte. Meine Kinder sind noch in der Grundschule. In den oberen Stufen sind es teilweise drei von 25 Kindern, die zum Religionsunterricht gehen. Das sagt ja auch schon einiges aus.

Vielleicht verlieren wir nicht die, die katholisch erzogen wurden und jetzt in ihren 40ern oder 50ern sind. Bei den Polen in den 30ern sieht es schon ganz anders aus. Da fragen sich jetzt viele: Soll ich überhaupt noch katholisch heiraten? Macht das überhaupt noch Sinn?

Die werden dann natürlich auch nicht ihre Kinder in den Religionsunterricht schicken. Man muss schlicht und einfach sagen: Die Kirche in Polen hat eine ganze Generation verloren. Da gibt es keine Möglichkeit mehr, sie zurückzugewinnen.

Viele Bischöfe, Priester und Katecheten haben gedacht, man kann mit ihnen genau so reden wie mit den älteren Generationen. Das funktioniert einfach nicht mehr. Viele Länder realisieren das so langsam. In den USA sind die Kirchen voll mit jungen Leuten. Dort weiß man, wie man Jugendliche für den Glauben begeistert. Mein Gefühl ist, dass Polen im Gegensatz dazu gerade ziellos durch den Nebel irrt.

Ich habe selbst viel Zeit für die Recherche gebraucht, wo ich meine Kinder zur Firmung schicken soll. Ich kenne mich weiß Gott mit der Kirche aus, aber auch ich habe lange suchen müssen, bis ich was Passendes gefunden habe.

Es ist eine große Herausforderung, die junge Generation in der Kirche zu halten. Zumal diese Generation dann auch ihre Kinder nicht mehr in die Kirche bringt. Das heißt den großen Einbruch der Zahlen werden wir vielleicht in zehn bis 20 Jahren erleben.

DOMRADIO.DE: Die Antwort der Deutschen auf diese Krise ist das Reformprojekt des Synodalen Weges. Das stößt international auf viel Kritik, aber fast nirgendwo so heftig wie in Polen. Die polnische Bischofskonferenz hat sogar einen Offenen Brief nach Deutschland geschickt. Warum reagiert gerade Polen da so heftig?

Guzik: Ich glaube, die große Frage ist, welche Antwort man versucht auf die drängenden Fragen der Kirchenkrise zu finden. Für die Gläubigen und Bischöfe in Polen liegt die Antwort nicht in Segnungen für homosexuelle Paare oder Frauenweihe. In anderen Worten: Die polnische Kirche sieht die deutschen Reformen kritisch, weil sie einfach größere Probleme hat.

Paulina Guzik

"Die polnische Kirche sieht die deutschen Reformen kritisch, weil sie einfach größere Probleme hat."

Wenn wir die Kirche ins Reine gebracht haben, wenn wir den Missbrauch aufgearbeitet haben, wenn wir Bischöfe und Priester haben, die ihren Job ernst nehmen, dann können wir anfangen über diese Themen zu diskutieren. Für uns sind das in gewissem Sinne irrationale Probleme.

Bei uns sieht die Lage einfach ganz anders aus. Wie gesagt, bei uns ist die Säkularisierung noch nicht so weit fortgeschritten, dafür werden aber auch die Fragen nach Segensfeiern oder Frauenweihe nicht so intensiv gestellt. Wir reden also von einer ganz anderen Ebene.

Trotzdem müssen wir es ja hinbekommen, als weltweite katholische Kirche im Dialog zu bleiben. Wir müssen uns gegenseitig verstehen, das aber auch im größeren Kontext der Weltkirche. Deswegen halte ich auch den Prozess der Weltsynode für sehr wichtig. Das Treffen in Rom im Oktober wird dabei sehr bedeutend sein, weil so viele unterschiedliche Stimmen und Meinungen aufeinandertreffen werden.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.

Katholische Kirche in Polen

Die römisch-katholische Kirche hat in Polen traditionell großen Einfluss. Ihr gehören knapp 90 Prozent der 33 Millionen Bürger an. In den vergangenen Jahren verlor die Kirche aber besonders in der jungen Generation an Ansehen. In der Hauptstadt Warschau wählten in diesem Schuljahr nur noch 29 Prozent der Schüler in der gymnasialen Oberstufe das Fach katholische Religion. Nach Angaben der Bischofskonferenz besuchten 2021 landesweit 28,3 Prozent der Katholiken die Sonntagsmesse.

Prozession in Polen / © Dariusz Banaszuk (shutterstock)
Prozession in Polen / © Dariusz Banaszuk ( shutterstock )
Quelle:
DR