DOMRADIO.DE: Vor genau 200 Jahren, am 4. September, wurde Anton Bruckner geboren. Dass der Österreicher ein genuin katholischer Komponist ist, ist hinreichend bekannt. Aber er hat nicht nur viel gebetet, sondern das auch dokumentiert. Wie muss man sich das vorstellen?
Prof. Dr. Meinrad Walter (Musikwissenschaftler und Theologe): Das muss man sich so vorstellen, dass Anton Bruckner ohnehin bestimmte Eigenheiten hatte, etwa einige Dinge zahlhaft zu erfassen. Zum Beispiel: Wenn er an irgendeinem Gebäude vorbeiging, konnte er eine zeitlang nicht anders, als die Fenster zu zählen. Das ging manchmal ins Zwanghafte.
In den Werken sind bisweilen Notizen drin, wie oft ein Motiv vorkommt oder wie viele Takte. Also, Quantifizierung hat ihn irgendwie fasziniert. Er hat auch sehr oft seine Gebete quantifiziert, obwohl es bei den Gebeten vielleicht mehr auf Qualität als auf Quantität ankommt. Tatsächlich gibt es etliche, vielleicht ein halbes Dutzend Taschenkalender von ihm. Die führte er, und zwar nicht in dem Jahr, für das sie gelten, sondern er hat den Taschenkalender von vor fünf Jahren genommen und hat in diesen Kalendern lange Reihen aufnotiert, die man erst mal entschlüsseln muss, weil sie abgekürzt sind.
Da steht dann zum Beispiel AV und VU. AV heißt Ave Maria, VU steht für Vaterunser. Es gibt Zeichen für Rosenkranzgebete, für die Doxologie und so weiter. Offensichtlich wollte er dokumentieren, dass er das auch verrichtet hat. Manche sagen, das gab es öfter in der Zeit.
Ich bin mir da nicht so ganz sicher, aber es schillert natürlich auch ein bisschen in der Form von: Ich muss mich rechtfertigen. Aber die Frage ist: Vor wem eigentlich? Vielleicht vor dem lieben Gott? Also Bruckner ist ein sehr, sehr spannungsvoller Komponist.
DOMRADIO.DE: Bruckner ist heute vor allem als Sinfoniker berühmt, auch wenn er lange gebraucht hat, sich durchzusetzen. Seine Karriere als professioneller Musiker hat er als Organist gestartet und schrieb auch umfangreich Kirchenmusik, vor allem für Chöre. Je nach Anlass waren das eher einfache Werke und dann wieder Mess-Vertonungen wie die große f-Moll-Messe, die für damalige Chöre fast unsingbar war. Wie hat sich denn Bruckner selbst als Kirchenmusiker gesehen?
Walter: Zunächst ist Bruckner einfach in die Kirchenmusik hineingewachsen. Das sind Koordinaten, die für ihn wichtig sind: Die ganze Welt ist fromm, er auch. Man lebt in einer Umgebung mit einer sehr kirchlichen Baukunst, mit großen Orgeln, mit Kirchenmusik.
Ich würde sogar sagen, seine Karriere begann als Sängerknabe; als Singender im kirchlichen Chören, im Sankt Florian-Knabenchor. Da war das Singen auch immer mit Ausbildung verbunden. Man sollte damals auch das verstehen, was man singt und er hat diese Stufen durchlaufen. Irgendwann nennt er sich nur noch Sinfoniker.
Aber ich glaube, in seiner Kirchenmusik ist auch schon sehr viel Sinfonisches drin. Seine d-moll-Messe zum Beispiel, da gibt es eine Art Sinfonie-Satz nur mit dem Orchester, was die Auferstehung mit nonverbalen Mitteln zur Geltung bringt, noch bevor diese Worte des Credo gesungen werden. Später in der orchestralen Musik, in der Sinfonik, ist auch noch ein kirchenmusikalisches Erbe drin. Es gehört bei Bruckner alles zusammen.
Ich glaube, er hat sich verstanden als jemand, der im Dienste der Liturgie Kirchenmusik betreibt, die Orgel und die Orgelimprovisation bei ihm dürfen wir nicht vergessen. Und dann gibt es diesen Schritt zur Sinfonik. Die ist auch noch für die Menschen und für den lieben Gott bestimmt. Aber es sind natürlich neue Akzentuierungen, die dann kommen. Er komponiert dann weniger Kirchenmusik als früher, da komponierte er ja einfach das, was gebraucht wird.
Wenn auf dem Dorf etwas Leichtes gebraucht wird, komponiert er das. Wenn in der Stadt Linz etwas Schweres wie die f-moll-Messe oder e-moll-Messe gebraucht wird, dann komponiert er auch das. Und dann wandelt sich sein Selbstverständnis in Richtung des Sinfonikers.
Aber: selbst wenn er weniger Kirchenmusik komponierte, dürfen wir nicht vergessen: Er hat fast jeden Sonntag Kirchenmusik aufgeführt. Er hat Orgel gespielt, er hat die alten Motetten wie Locus iste und Ave Maria eingelegt in Messkompositionen, er hat immer wieder dirigiert. Also, er ist auch der Kirchenmusik ein Stück weit, so könnte man sagen, durchaus treu geblieben, auch als Sinfoniker.
DOMRADIO.DE: Dennoch muss man ja sagen, dass seine Kirchenmusik im Schnitt fast so modern klingt wie seine Sinfonien. Er hätte ja auch die Möglichkeit gehabt, so zu komponieren wie der weitverbreitete Cäcilianismus mit seinem starken Rückgriff auf die Renaissance und die Gregorianik. Warum hat er das im Prinzip kaum gemacht?
Walter: Das ist eine interessante Frage. Ich glaube, Bruckner hat zeitlebens gedacht, dass man einerseits die Tradition der Musik vollkommen beherrschen muss, er war ja geradezu besessen davon, Unterricht zu nehmen, sich prüfen zu lassen. Da kam es bei seinen Fähigkeiten vor, dass die Prüfer sagen: "Er hätte uns prüfen sollen.” So wird ein Schuh daraus. Aber er wollte geprüft werden. Gleichzeitig sagt er den Schülern: Aber so wie man jetzt im Unterricht komponiert, so komponiert man natürlich eigentlich nicht. Das ist die Voraussetzung. Und für ihn wichtig: "Singet dem Herrn ein neues Lied". Bei ihm ist alles auch mit Innovation verbunden. Für ihn war der Cäcilianismus zu retrospektiv. Die wollen etwas kopieren, was früher war. Und Bruckner will etwas musikalisch Eigenes sagen. Das ist der wesentliche Unterschied.
Und zum richtigen Crash kam es, als dann der Herausgeber eines cäcilianischen Blattes im sogenannten phrygischen Pange lingua von Bruckner einen Ton von ihm zu verbessern meinte und das war eine scharfe Dissonanz, die ging den Cäcilianern nicht mehr ins Ohr und Bruckner bestand auf einer Korrektur der Korrektur.Das wollte er partout nicht, dass man ihm da in seinen Werken rumflickt.
Also er weiß, man kann auch mit den Kirchentonarten viel machen, aber man macht mit ihnen etwas Innovatives, und man sagt nicht: "Die Gregorianik und die Vokalpolyphonie ist unser Vorbild und wir machen quasi den zweiten Aufguss davon." Das war für Bruckner nicht möglich, aber das ist eine andere Spannung. Die Spannung zwischen Tradition und Innovation. Und da steht er mitten drin. Und das schlägt Funken. Bruckner hält die Spannung aus und will zeigen, dass man auch mit der Kirchenmusik, die traditionell im Dienst der Kirche steht, trotzdem die interessantesten Innovationen verbinden kann.
DOMRADIO.DE: Und auch Bruckner selber wurde ja durchaus spannungsvoll gesehen. Ich habe es eben schon erwähnt er wurde als Symphoniker spät anerkannt, im Prinzip erst ab der siebten Sinfonie. Heute sind seine Sinfonien wirklich unvergessen und werden auch viel gespielt. Und dadurch, dass Bruckner so ein spiritueller Mensch war, ist ja immer auch ein bisschen so der Streit, wie seine Sinfonien zu verstehen sind. Ist das auch eine Form von geistlicher Musik? Sind das Gebete ohne Worte? Sie verweisen da auf den Begriff "Spirituelle Musik" und sehen in der Sinfonik von ihm eher eine Einladung. Wie meinen Sie das?
Walter: Ja, ich meine, dass man dieser Spannung nicht entgehen kann. Das eine Extrem ist, dass man sagt: "Die Sinfonien sind Messen ohne Text." Das ist zu einfach, so geht es meiner Meinung nach nicht. Aber nur den Bruch zu sehen, na ja, dann sind die Messen zu Ende, jetzt kommen bei Bruckner die Sinfonien, und die haben mit dem Messen nichts mehr zu tun. Das geht auch nicht.
Eines der ältesten Worte im Blick auf Kirchenmusik, auf geistliche Musik, spirituelle Musik ist das Wort "Andacht" und "andächtig". Bruckner hat Beethoven verehrt, der schreibt über das Kyrie seiner Missa solemnis "Mit Andacht". Ich glaube, eine Einladung zur Andacht sind auch die Sätze der Sinfonien. Hans Zender, Dirigent und Komponist, hat dieses Wort geprägt, er sagt: "Zunächst ist da die kirchliche Musik, dann kommt die konzertant-geistliche Musik, Oratorien von Mendelssohn und so weiter. Und drittens kommt es dann zu einer spirituellen Musik, deren Kennzeichen ist, dass sie gar nicht mehr auf Worte und Texte rekurriert. Zender nennt langsame Sätze aus Beethovens Klaviersonaten, Sätze aus Bruckner Sinfonien:
Das ist spirituelle Musik, aber da kann man nicht mehr sagen, das ist so und nicht anders, sondern das lädt ein zur Andacht. Wenn Sie nicht andächtig sein wollen, schlagen Sie die Einladung aus! Es ist kein objektive Feststellung: Diese Musik ist andächtige Musik, sie ist ein komponiertes Gebet. Sondern das ist eine Möglichkeit der Rezeption, ich glaube, eine berechtigte Möglichkeit, aber eine unter vielen. Und wenn man sagt: Ja, gut, ich erlebe da etwas Andächtige, da bin ich auf mich selber fokussiert, wenn ich das höre. Und irgendwas weist nicht nur auf mich, sondern sogar noch über mich hinaus, dann bin ich bei diesem spirituellen Grundgedanken, der, glaube ich, bei Bruckner durchaus ergiebig ist, weil er diese Alternative unterläuft. Entweder hat die sinfonische Musik was mit Kirchenmusik zu tun oder überhaupt nicht.
Nein, da gibt es eine Brücke und die Brücke nenne ich jetzt mal versuchshalber spirituelle Musik. Die ist aber immer darauf angewiesen, dass ich da mitgehen will und kann. Auch die Dirigentinnen und Dirigenten müssen da mitgehen und auch, ob der Raum mitmacht usw. Das Ganze ist ein kompliziertes Gefüge.
DOMRADIO.DE: Und kompliziert ist auch ein bisschen die Tradition von Bruckner im Sinne von Anerkennung. Es gibt Kritiker, die sagen, dass Bruckner genau eine Sinfonie geschrieben hat und dann immer wieder variiert, weil er einen sehr prägnanten Stil hat. Und trotzdem muss man ja konstatieren, dass seine Werke nach wie vor überall gespielt werden, auch jenseits seines 200. Geburtstages gehören seine Sinfonien zum Kernrepertoire. Und auch für die Kirchenmusik gilt das. Zum Schluss die Frage an Sie: Wie bedeutend und wichtig ist Bruckner eigentlich heute noch?
Walter: Lassen Sie mich bei der Kritik ansetzen. Die füllt ganze Bände. Am schärfsten war vielleicht der Dirigent Hans von Bülow, der über Bruckner sagte, er sei "halb Genie, halb Trottel". Aber das ist dann auch wieder die große Spannung. Ich glaube, Bruckner ist heute so wichtig, weil er eine eigene, unverwechselbare Musiksprache hat, so wie auch Mozart oder Bach. Das ist wirklich etwas Eigenes.
Und die Behauptung, Bruckners neun Sinfonien seien im Prinzip nur eine in verschiedenen Varianten, das kann man nur sagen, wenn man diesen Sinfonien nie wirklich auf den Grund gegangen ist, nie genau gehört hat. Denn was da alles musikalisch passiert, bleibt faszinierend: wie sich die Fragestellungen ändern, wie Bruckner immer wieder neue Lösungen findet, auch für alte Fragen. Ein bisschen gibt es schon die "Bruckner-Krankheit" tatsächlich, nämlich, dass er skrupulös war. Da wären wir wieder bei den Gebeten. So ist es auch beim Komponieren. Wenn jemand sagte: Ja, die Sinfonie ist beim Publikum durchgefallen, weil das gestraft oder jenes geändert gehört, dann hat Bruckner Änderungen vorgenommen und es ist wieder eine andere Gestalt derselben Sinfonie entstanden.
Aber es sind immer neue Ideen, die ihn beschäftigt haben - im Kontakt mit Tradition, mit Räumen, mit dem Ideal, auch der immer praktizierten Orgelmusik. Damit verbunden die Frage: Wie kann man das auch auf symphonische Gestalten übertragen?
Und letztlich auch diese Möglichkeit, Kirchenmusik funktional zu betrachten; das, was gebraucht wird, vom Leichten bis zum Schweren, die große Symphonik und dann noch diese Spitze, die man spirituelle Musik nennen kann: Das sind Dinge, die heute nach wie vor aktuell sind. Bruckner ist aus dem sinfonischen Leben, aber auch aus dem kirchenmusikalischen Leben nicht wegzudenken. Und das wird wohl auch so bleiben.
Das Interview führte Mathias Peter.