Bei einer Pressekonferenz am Rande der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sagte Kerstin Claus, Mitglied im Betroffenenrat des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, sexueller Missbrauch habe vielfältige biografische und auch massive wirtschaftliche und gesundheitliche Folgen.
Die in der evangelischen Kirche bislang gezahlten Unterstützungs- und Anerkennungsleistungen seien "situativ gut und richtig". Dennoch müsse es eine Debatte um Entschädigungen geben, so Claus, die am Vormittag als erste Betroffene vor der öffentlich tagenden Synode gesprochen hatte.
"Viele Betroffene leben in prekären Verhältnissen"
Detlev Zander, der zu den Opfern eines Missbrauchsskandals in der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal in Baden-Württemberg gehört, ergänzte: "Es muss klar sein, dass wir von Menschen unter dem Dach der EKD schwerst misshandelt wurden." Die EKD müsse dafür Verantwortung übernehmen und "eine Summe X" für die Spätfolgen bezahlen. "Viele Betroffene leben von Hartz IV oder in prekären Verhältnissen", so Zander. Gegenwärtig sei es aber noch zu früh, um über die Höhe der Summe zu sprechen. Dies solle in den Diskussionen der EKD mit dem Betroffenenbeirat geschehen.
Bischöfin Fehrs hatte auf der Synode in Dresden angekündigt, dass die Evangelische Kirche in Deutschland zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch einen Betroffenenbeirat einrichte. Das Konzept dazu sei auf der Grundlage der Erfahrungen des Betroffenenrats des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, gemeinsam erarbeitet und vom Rat der EKD im September beschlossen worden.
Der Beirat solle als kritisches Gegenüber zur EKD die Betroffenenperspektive in den Aufarbeitungsprozess einbringen und eigene Positionen formulieren. "Ab sofort ist es Betroffenen aus dem Bereich der evangelischen Kirche und der Diakonie möglich, sich für diesen Beirat zu bewerben", erklärte Fehrs. Gesucht würden zwölf Personen für die Dauer einer Amtszeit von vier Jahren.
Fehrs: Menschen müssten erst aufgefangen werden
Die Bewerbungsfrist geht bis zum Januar 2020, damit der Betroffenenbeirat sich im Frühjahr 2020 konstituieren könne, so die Hamburger Bischöfin weiter. Ausgewählt würden die Mitglieder des Gremiums durch eine Gruppe aus Mitgliedern des Betroffenenrates von Rörigs Dienststelle, Mitarbeitenden von externen Fachberatungsstellen und dem Beauftragtenrat der EKD. Sie legten dann dem Rat der EKD eine Vorschlagsliste vor, der anschließend die Mitglieder des Betroffenenbeirats berufe.
Fehrs kündigte zudem Veränderungen bei der Unabhängigen zentralen Ansprechstelle "Help" an, die im Auftrag der EKD betrieben wird. Rückmeldungen von Betroffenen zeigten, "dass der Bedarf noch einmal deutlich anders ist, als nur eine Vermittlungsstelle zu sein". Menschen müssten erst aufgefangen werden. "Nicht alle Betroffene wollen sich sofort mit kirchlichen Vertretern in Verbindung setzen", sagte Fehrs. "Wir lernen von Betroffenen, wir reflektieren, wie wir diese Anlaufstellen verbessern können."
Claus begrüßte die geplanten Veränderungen: "Es ist viel besser, etwas zu tun und zu merken, es gibt unterschiedliche Bedarfe." Aus ihrer Sicht sei "Help" ein Schritt auf einem Weg, "und die Anpassungen erfolgen in der gemeinsamen Arbeit".
EKD sind 770 Missbrauchsfälle bekannt
Wie das Mitglied des Beauftragtenrates, Nikolaus Blum, erklärte, sind der EKD bislang 770 Missbrauchsfälle bekannt. Vor einem Jahr waren es noch 479 Fälle. Der Anteil der Fälle aus der Diakonie liegt demnach bei knapp 60 Prozent. Dabei sind vor allem Heimkinder betroffen. Der Anteil der Fälle aus der verfassten Kirche liegt bei gut 40 Prozent. "Dabei handelt es sich nicht nur um sexualisierte Gewalt an Minderjährigen", betonte Blum. Erfasst seien auch alle Fälle sexualisierter Gewalt zwischen Erwachsenen, zwischen Teilnehmenden von Freizeiten sowie alle Berufsgruppen in der Kirche.
Dagegen verzichtet die EKD vorerst auf eine eigene "Dunkelfeldstudie". Vorgespräche mit Fachleuten ergaben laut Blum, dass etwa 100.000 Personen bundesweit befragt werden müssten, um verlässliche Ergebnisse zu erhalten. "Sinnvoller erscheint es uns deshalb, dass eine so große Studie nicht nur von einer Institution in Auftrag gegeben wird, die mit Missbrauchsfragen konfrontiert ist, sondern in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext gestellt würde", erklärte Blum.