epd: Beide große Kirchen verlieren Mitglieder. 2019 sind mehr als eine halbe Million Menschen ausgetreten. Sie sind selbst in der evangelischen Kirche engagiert. Woran liegt das nach Ihrer Einschätzung?
Katrin Göring-Eckardt (Franktionsvorsitzende der Grünen): Es gibt viele Untersuchungen dazu, deswegen will ich meine anekdotisch-praktische Sicht gar nicht zum Besten geben. Wir müssen Konsequenzen daraus ziehen, was Wissenschaftler herausgefunden haben.
epd: Und das ist?
Göring-Eckardt: Alle großen Organisationen erleben, dass Mitgliedschaft nichts Selbstverständliches mehr ist. Wir sind keine Volkskirche mehr in dem Sinne, dass es selbstverständlich ist, dazu zu gehören. Mich lässt das aber nicht hoffnungslos oder deprimiert zurück. Ich bin in der DDR aufgewachsen, deswegen ist mir eine kleinere Kirche nicht ungewohnt.
epd: Hat sich die Mehrheit evangelischer Christen und Funktionsträger damit abgefunden?
Göring-Eckardt: Ich habe von meiner Erfahrung geredet. Ob das wirklich so kommen wird, dass Christen eine Minderheit werden, wissen wir nicht. Selbst wenn wir Mitglieder verlieren, sind wir eine der größten Organisationen - größer als Parteien oder Sportvereine.
epd: Die Synode der EKD, der Sie angehören, wird sich im November mit Reformen beschäftigen. Was ist eigentlich das Ziel: neue Mitglieder zu gewinnen oder die Zahl der Mitglieder überhaupt möglichst stabil zu halten, den Verlust also zu stoppen?
Göring-Eckardt: Wir dürfen auf keinen Fall die vergessen, die da sind und Ansprüche, Wünsche und Ideen haben. Als erster Schritt ist es also total richtig, die Mitglieder zu halten. Nur wenn wir an den Punkt kommen, an dem wir wirklich überzeugt sind, das Richtige zu tun, können wir überhaupt auf andere ausstrahlen. Dafür brauchen wir Veränderung.
epd: Welche Veränderung ist das in Ihren Augen?
Göring-Eckardt: Wir müssen sehr bewusst darauf setzen, Ansprechpartner für Lebenssituationen zu sein, in denen etwas anders wird. Das gilt etwa für die Schwelle zum Erwachsenwerden, Heirat, Kinderbekommen, auch für Krisen des Alltags oder gar den Tod.
Zweitens müssen wir einsehen, dass es allein als evangelische Kirche nicht mehr geht. Wir müssen auf Ökumene, also Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche und mit anderen christlichen Organisationen setzen. Drittens sollten wir aufhören, zwischen Kirche im engeren Sinn und dem Wirken von evangelischen Organisationen wie Diakonie und «Brot für die Welt» zu unterscheiden. Der Kindergarten, das Krankenhaus, das Engagement für Flüchtlinge - das ist alles Kirche.
Das sollten wir stärker nach außen kommunizieren.
epd: Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat ein Papier mit Reformvorschlägen vorgelegt, über das die Synode beraten wird. Es zielt auf einen Abbau von Doppelstrukturen und eine Konzentration auf Kernthemen. Gehen Sie mit den Vorschlägen mit?
Göring-Eckardt: Bürokratische und Doppelstrukturen versteht heute niemand mehr. Mir ist besonders wichtig, dass das Papier auf Diskurs angelegt ist. Es geht nicht darum, einfach einem Vorschlag einer Arbeitsgruppe zu folgen. Das unterscheidet es auch von früheren Reformvorhaben, wo Kommissionsvorschläge einfach so umgesetzt werden sollten. Die evangelische Kirche hat da auch aus Widerständen gelernt, die es bei Reformern in der Vergangenheit gab.
epd: Manche Kritiker des Papiers sagen, es ziele auf die Abschaffung der Kirchengemeinde vor Ort. Wie sehen Sie das?
Göring-Eckardt: Ich weiß um die Ängste von Menschen, die sich fragen, was aus ihrer Ortsgemeinde wird. Ich rate dazu, sich einfach mal umzuschauen, was längst geschieht. Selbstverständlich muss künftig über mehrere Gemeinden hinweg zusammengearbeitet werden. Bei Gemeinden in Brandenburg und Thüringen aus 13 Dörfern kann der Pfarrer oder die Pfarrerin nicht jede Woche überall erscheinen.
epd: Die Synode der EKD, der Sie angehören, entscheidet über den Haushalt und damit über konkrete Sparmaßnahmen. Haben Sie Ideen, in welchen Bereichen oder bei welchen Angeboten die Kirche sparen sollte?
Göring-Eckardt: Ich sehe Potenzial vor allem in zwei Bereichen. Das eine ist die Diskussion um die vielen Landeskirchen. Wir haben 20 Landeskirchen - mehr als Bundesländer. Da stellt sich mir schon die Frage, ob die Aufrechterhaltung dieser Struktur sinnvoll ist. Daneben gibt es die vielen Kirchenräume, mit denen eine riesige Verantwortung verbunden ist. Was machen wir in der Zukunft damit? Kann man mit diesen Orten auch etwas anderes anfangen? So sehr ich persönlich Kirchenräume liebe und mich kaum satt sehen kann an Kirchenfenstern, können wir uns wahrscheinlich nicht mehr alle leisten.
epd: Um wie viele Landeskirchen sollte reduziert werden?
Göring-Eckardt: Da werde ich mich auf keine Zahl festlegen. Ich weise nur darauf hin, dass wir Bundesländer haben, in denen wir zwei oder mehr Landeskirchen haben. Daneben gibt es aber auch positive Beispiele, etwa meine eigene, die mitteldeutsche Landeskirche oder die Nordkirche, bei denen sich auch sehr verschieden geprägte Landeskirchen zusammengeschlossen haben. Diese Prozesse sind zwar zunächst nicht einfach. Am Ende lernt man aber auch voneinander und fühlt sich als großes, gemeinsames Ganzes stärker als zuvor.
epd: Was meinen Sie damit?
Göring-Eckardt: Es geht darum, Bündnisse zu schmieden. Ein Beispiel ist das Bündnis «United4Rescue», das die «Sea-Watch 4» betreibt. Nur so konnte die Kirche das Thema Seenotrettung konkret angehen. Die EKD ist ja keine Reederei. Dennoch ist bei dem ganzen Projekt klar: Es geht nicht nur um Seenotrettung und Politik, sondern um christliches Engagement.
epd: Wird die Kirche dann eine Nichtregierungsorganisation neben anderen sein?
Göring-Eckardt: Nein, aber sie wird dies unter anderem auch sein. Sie agiert mit der Diakonie und «Brot für die Welt» an manchen Stellen wie eine Nichtregierungsorganisation. Aber es geht nicht nur darum, sich gesellschaftlich zu engagieren, sondern darum, den Glauben frei leben zu können. Dahinter steht eine 2.000-jährige Geschichte, in der Menschen wegen ihres Glaubens gefoltert oder ermordet wurden. Dieses Fundament hat keine Nichtregierungsorganisation, das hat nur Kirche.
epd: Im Papier ist auch die Rede davon, sich künftig bei politischen Stellungnahmen stärker auf weniger Themen zu konzentrieren. Ist das ein Rückzug der Kirche aus der Öffentlichkeit?
Göring Eckardt: So lese ich das nicht. Was dort steht, heißt für mich: Unser politisches Engagement sollte sich nachvollziehbar gründen auf dem, was wir glauben. Auch eine politische Äußerung ist damit verbunden mit einem geistlichen Anspruch.