DOMRADIO.DE: Der Papst hat sich am vergangenen Sonntag vom Petersplatz aus direkt an Wladimir Putin gewendet. Kam das überraschend?
Stefan von Kempis (Leiter der deutschsprachigen Abteilung von Vatican News): Ja, das kam überraschend. Zwar gab es die Appelle des Papstes, für das Ende des Ukraine-Kriegs zu beten und das gemarterte Volk der Ukrainer nicht zu vergessen, in den letzten Wochen immer wieder mal. Aber das war irgendwie vorhersehbar, ohne dass irgendwas Neues dazu gekommen wäre. Da war also eine gewisse Appell-Routine eingetreten, als fiele dem Vatikan angesichts dieses Dramas und Grauens, das sich in der Ukraine abspielt, gar nicht mehr viel ein.
Jetzt auf einmal gab es einen ganzen Angelustext nur zu diesem Thema. Das ist rar. Das hatte keiner erwartet.
Aber es gab keine direkte Ansprache an Putin. Papst Franziskus hat den Namen nicht direkt in den Mund genommen. Er hat vom Präsidenten der Russischen Föderation gesprochen. Bislang hatte er größte Schwierigkeiten, auch nur mal zu erwähnen, dass es vielleicht Russland war, das die Ukraine überfallen hat. Diese Indirektheit ist trotz der direkten Apostrophe vom obersten Stockwerk des Apostolischen Palast aus immer noch da.
DOMRADIO.DE: Bricht der Vatikan jetzt auch ein bisschen mit der diplomatischen Linie, sich neutral zu verhalten?
von Kempis: Ja, das bricht ein bisschen mit der diplomatischen Linie. Wobei Neutralität zu einfach gedacht ist. Der Heilige Stuhl steht grundsätzlich auf der Seite der Opfer und in diesem Fall der Ukraine. Er sagt aber nicht klar, wer der oder die Täter sind. Das ist dieser Anflug von Neutralität. Man will sich eine mögliche Vermittlungstätigkeit zwischen Russland und der Ukraine oder zwischen anderen auch nicht verbauen.
Dass der Papst beim Angelusgebet sagt "Mein Appell gilt vor allem dem Präsidenten der Russischen Föderation", macht natürlich deutlich, dass er Herrn Putin doch wohl für den Hauptverantwortlichen für das hält, was da im Moment passiert. Das war nicht immer so.
DOMRADIO.DE: Gleichzeitig hat Papst Franziskus aber auch einen Appell an den ukrainischen Präsidenten Selenskyj gerichtet und ihn aufgefordert, sich für eine friedliche Lösung zu öffnen. Ist das ein rhetorischer Versuch, Russland zu besänftigen?
von Kempis: Nein, so lese ich das nicht. Der Papst denkt tatsächlich so. Er hat übrigens Selenskyj auch nicht beim Namen genannt, sondern vom Präsidenten der Ukraine gesprochen. Zwar wird Russland diese Art der Formulierung freuen, dass der Papst Verhandlungen zum jetzigen Zeitpunkt für denkbar und möglich und sinnvoll hält.
Aber das ist eher ein Nebenprodukt der eigentlichen Linie, ganz speziell von Franziskus. Dieser Mann will kein weiteres Blutvergießen mehr. Der Papst will Verhandlungen. Er hat immer auf Verhandlungen gesetzt. Vielleicht sieht man das in der Ukraine gerade im Moment anders, wo sich das Kriegsglück ein bisschen gewendet hat, weil ukrainische Truppen an verschiedenen Stellen des Landes vorrücken und russische Besatzer wieder herauswerfen. In so einem Moment kann man doch nicht verhandeln?! Doch, das ist eindeutig die Linie von Franziskus.
Zu Beginn des Konfliktes hatte Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin schon einmal gesagt, dass man eigentlich mit dem Modell von Minsk ganz zufrieden war. Das heißt, einen Konflikt in einem bestimmten Moment einzufrieren und dann wie damals unter dem Druck Frankreichs und Deutschlands unter Angela Merkel zu verhandeln. Das ist dann ein eingefrorener Konflikt, der nicht ständig wieder heiß wird. Viele werden sagen, dieses Modell Minsk ist jetzt gescheitert. Aber der Vatikan sieht das nicht unbedingt so.
DOMRADIO.DE: Nicht nur der Inhalt dieses Statements ist ungewöhnlich gewesen, sondern auch die Tatsache, das Sonntagsgebet dafür zu nutzen. Das hat Papst Franziskus erst einmal gemacht, als er 2013 zum Ende des Krieges in Syrien aufgefordert hat. Kann er das denn so einfach machen?
von Kempis: Ja, das kann er einfach machen. Der Papst entscheidet. Natürlich ist es ungewöhnlich, dass die Auslegung zum Sonntagevangelium entfällt. Andererseits hat es aber seit Johannes Paul II., einem sehr politischen Papst, verstärkt nach dem Angelusgebet Appelle und politische Statements gegeben.
Man kann also sagen, dass Franziskus dieses Statement eigentlich von der Position hinter dem Angelus auf die Position vor den Angelus vorgezogen hat, um ihm noch mehr Tiefe und Gehör zu verschaffen.
DOMRADIO.DE: Wie politisch kann ein Papst und in diesem Fall Franziskus eigentlich sein? Papst Johannes Paul II. war politisch nicht wirklich neutral. Könnte Franziskus auch in so eine Rolle reinrutschen?
von Kempis: Papst Franziskus knüpft hier an Johannes Paul II. an. Jedem in Rom kam ein anderes Angelusgebet des schon todkranken, alten Johannes Paul II. zu Beginn dieses Jahrhunderts vor dem Einmarsch in den Irak in Erinnerung, als er sagte: "Ich bin noch aus der Generation des Zweiten Weltkriegs. Meine Pflicht ist es, davor zu warnen, keinen Krieg vom Zaun zu brechen." Auch das war so ein politischer Angelus.
Johannes Paul II. war ein politischer Papst und Franziskus ist es auch - von beiden aus gesehen im Unterschied zu Benedikt XVI. Zwar hat Franziskus in Osteuropa nicht so einen großen Hebelpunkt, aber in seiner Heimat Lateinamerika haben wir schon gesehen, dass der Papst auch politisch was bewegt hat.
Das Wichtigste war die Annäherung zwischen den USA und Kuba, die auf seine stille Diplomatie hin zustande kam. Leider wurde sie dann nach dem Amtsantritt von Donald Trump sehr schnell wieder zerschlagen. Aber da zeigt sich doch, zu was dieser Papst politisch fähig ist.
Es frustriert ihn ganz offenbar, dass das in Osteuropa nicht machbar ist, dass er da keinen Ansatzpunkt, keinen Hebel, kein Mittel in der Hand hat. Hätten wir jetzt einen polnischen Papst, denke ich manchmal, was würde der aus dieser Vorlage mit einem Krieg in Osteuropa machen können?
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.