domradio.de: Sie sind nach wie vor nah dran an der Bundespolitik. Wie erklären Sie sich, dass so viele Menschen offenbar empfänglich für populistische Botschaften sind?
Wolfgang Thierse (SPD, ehem. Bundestagspräsident): Ich glaube, das ist ein altvertrauter und gefährlicher Mechanismus, den wir aus unserer Geschichte auf erschreckende Weise kennen. In Zeiten dramatischer Veränderungen, die Menschen verunsichern, die Menschen Angst machen von der Globalisierung, der Digitalisierung, dem internationalen Terrorismus, dem Islamismus, einer Fülle von Veränderungen, die stattfinden. In diesen Zeiten gibt es viele Menschen, die zukunftsunsicher sind, die Ängste haben und die Problemlast für überwältigend halten. Und da werden sie empfänglich für die einfachen Botschaften der Populisten. Ihre Sehnsucht nach der Lösung von den Problemen – ja, nach Erlösung von den Problemen – drückt sich in der Sehnsucht nach der starken Hand, der starken Figur, aus. Das kennen wir aus unserer Geschichte und das ist die Situation, in der Populisten erfolgreich werden und Anhänger finden. Aber, das ist nicht nur ein deutsches Phänomen. Schauen wir ringsum in Europa und in der Welt. Trump ist ein geradezu gefährlicher Populist. Schauen Sie nach Polen, Ungarn, Frankreich, Holland. Überall gibt es starke populistische Kräfte. Manche sind an der Regierung, manche zum Glück nicht.
domradio.de: Die Studie besagt auch: Wähler mit rechter Orientierung sind weitaus populistischer als solche mit linker. Kann man Ihrer Meinung nach auch hier Entwarnung geben?
Thierse: Zunächst ist die Zahl, dass ein Drittel zu populistischen Ansichten neigen, keine wirkliche Beruhigung. Man muss nichts dramatisieren. Aber es gibt doch einen beträchtlichen Teil der Deutschen, die empfänglich sind für diese Botschaften der Vereinfachung, der Schuldzuweisung. Das muss uns schon beschäftigen. Selbst wenn unsere Demokratie dadurch nicht in Gefahr ist, müssen wir begreifen, dass die Demokratie ein politisches System ist, dass immer wieder neu angeeignet werden muss. Denn die Demokratie ist, ganz nüchtern gesagt, ein Institutionsgefüge und ein Regelwerk, in dem man sich auskennen und engagieren muss. Wenn man das nicht macht, dann bleibt man in der Rolle des Jammerns und des Schimpfens, in der Opferrolle und dann ist man auch empfänglich für populistische Verführungen. Autoritäre Einstellungen zur Demokratie passen nicht zu ihr, aber genau deshalb sind sie gefährlich.
domradio.de: Als Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) machen Sie bei der ZdK-Initiative "Demokratie stimmt!" mit und haben dazu aufgerufen die Demokratie zu verteidigen. Ist Ihnen das in diesem Jahr ein besonderes Anliegen?
Thierse: Es ist wichtig. Wir sehen unsere rechtsstaatliche, liberale und offene Demokratie ist nicht selbstverständlich. Sie ist gefährdet. Sie ist geradezu die Ausnahme. Und deswegen, sage ich, sind auch gerade Christen dazu verpflichtet, diese Demokratie zu verteidigen, weil sie die politische Lebensform der Freiheit ist und weil sie auch der Ort ist, wo Religionsfreiheit gilt.
Das Gespräche führte Hilde Regeniter.