Das ist schon eine ungewöhnliche Darstellung im Südschiff der Lüneburger St.-Johannis-Kirche: Auf einem Brunnen steht Jesus, im Arm hält er ein mehr als mannshohes goldenes Kreuz. Aus dem Körper des Auferstandenen ergießt sich reichlich Blut in die Brunnenschale. Und um den Brunnen drängen sich zahlreiche Bürger – Männer, Frauen und Kinder –, die Weinkelche in der Hand halten.
Eine evangelische Darstellung des Abendmahls, zu sehen auf einem gut 400 Jahre alten Wandrelief, dem sogenannten Goedemann-Epitaph. Und wer jetzt mehr wissen will über dieses hochsymbolische Kunstwerk in Lüneburgs größter Kirche, hat Glück, wenn er mit Gudrun Jesussek hier ist.
Kirchenführerin mit Zertifikat
Die 72-Jährige ist frisch ausgebildet als ehrenamtliche Kirchenführerin, am ersten September-Wochenende erhält sie ihr Zertifikat. Vor dem Epitaph legte sie kürzlich ihre praktische Prüfung ab und demonstrierte mit Begeisterung und Wissen, wie sie Besucher in die Kunst- und Kirchengeschichte lockt. Zum Beispiel die Kelche in der Hand der Bürger: Sie sollen zeigen, dass Gottes Gnade unterschiedslos jedem zuteilwird, selbst den Kindern. Oder die goldenen Haare der Bürger auf dem Relief: Jesussek deutet diese Farbe als Symbol für Segen.
"Kirchen lebendig werden lassen" lautet das Motto der Ausbildung in der Hannoverschen Landeskirche. Zehn Frauen und vier Männer nahmen am jüngsten Durchlauf teil. Viele führen Gäste nicht nur durch Kirchen, sondern auch durch Städte oder Museen. So wie Gudrun Jesussek, die zusätzlich im Deutschen Salzmuseum in Lüneburg tätig ist. Doch an den Gotteshäusern kommt nach ihrer Überzeugung niemand vorbei: "Wenn ich der Kultur- und Kunstgeschichte näherkommen will, geht das nur über die Kirchen."
120 Stunden Ausbildung
Die Ausbildung umfasst 120 Stunden, verteilt auf acht Wochenenden in eineinhalb Jahren. Es geht um Kirchengeschichte und Architektur, um Spiritualität und Symbolik. Auch didaktische und methodische Tipps für Kirchenführungen stehen auf dem Programm. "Ziel ist, die Schätze einer Kirche zu heben und für die Gäste fruchtbar zu machen", unterstreicht Diakon Klaus Stemmann, leitender Referent "Kirche im Tourismus" im Haus kirchlicher Dienste in Hannover. Seminarorte sind die Klöster Amelungsborn und Bursfelde, die Heimvolkshochschule in Hermannsburg sowie das Michaeliskloster in Hildesheim.
Fast alle evangelischen Landeskirchen und katholischen Bistümer bieten die zertifizierte Ausbildung an, berichtet Stemmann. Nach Angaben des Bundesverbands Kirchenpädagogik, der seit 2005 ein entsprechendes Gütesiegel vergibt, sind bundesweit mehr als 1.000 Menschen geschult worden. In Niedersachsen dürften es über 200 sein, schätzt Diakon Stemmann. Die Nachfrage nach den Kursen sei hoch, der nächste starte im April 2023.
Späte Zusatzausbildung
Gudrun Jesussek, die früher als chemisch-technische Assistentin arbeitete, stieß bereits 2005 zur Kirchenführer-Gruppe in St. Johannis. 2015 übernahm sie die Leitung des Teams, das für die regelmäßigen Führungen an Wochenenden im Sommerhalbjahr und auf Wunsch zu weiteren Terminen verantwortlich ist. Warum entschloss sie sich als gestandene Kirchenführerin trotzdem für die Ausbildung? "Bei vielen Themen fühle ich mich jetzt sicherer und kann die Zusammenhänge besser erklären", sagt die 72-Jährige. Und es gehe ja nicht nur um Faktenwissen, sondern auch um das Wie einer Kirchenführung: etwa die Gäste ins Gespräch zu holen und sie eigene Eindrücke beschreiben zu lassen. Oder selbst deutlich zu sprechen und ruhig vor den Zuhörern zu stehen.
Für ihre Prüfung am Goedemann-Epitaph hatte Gudrun Jesussek selbst eine Gruppe mitgebracht. Ein scharfsinniger Beobachter merkte an, die Jesus-Figur auf dem Brunnen sei aber wohlgenährt. Eine Beobachtung, auf die sie nicht vorbereitet war – ausgerechnet bei der Prüfung! Doch didaktisches Geschick hat die Kirchenführerin gelernt: "Man kann die Antwort auch gemeinsam mit der Gruppe entwickeln."