DOMRADIO.DE: Frau Zilske, als Sie feststellen mussten, dass Sie keine eigenen Kinder bekommen können, haben Sie und Ihr Mann sich für den Weg der Adoption entschieden und zunächst ein Kind und nach zwei Jahren ein zweites mit Down-Syndrom angenommen. Heute empfinden Sie sich als eine ganz normale Familie mit zwei fast erwachsenen Töchtern. Gab es da nicht von Anfang an besondere Herausforderungen?
Martina Zilske (Mutter von zwei Töchtern mit Down-Syndrom und Initiatorin einer Selbsthilfegruppe): Als mir 1997 gesagt wurde, dass für eigene Kinder nur eine In-vitro-Fertilisation infrage komme, war für mich schnell klar, dass man nicht alles machen muss, was medizinisch möglich ist, zumal das einen enormen Aufwand und auch massiven Eingriff in die Natur bedeutet. Außerdem weiß niemand, was mit den vielen befruchteten Eizellen geschieht, die nicht verwendet werden. Also stellte sich uns die Frage: Was dann? Denn wir wollten ja in jedem Fall Kinder. Alternativ sind wir die Option von Auslands- und Inlandsadoptionen durchgegangen. Am Ende dieses Prozesses konnten wir uns schließlich auch ein behindertes Kind vorstellen – und sehr konkret: eines mit Down-Syndrom. Daraufhin haben wir einen entsprechenden Antrag ans Jugendamt gerichtet.
DOMRADIO.DE: Antragsteller wie Sie gibt es sicher nicht oft. Dort war man bestimmt überrascht…
Zilske: Naja, es scheint in der allgemeinen Wahrnehmung grundsätzlich schon befremdlich, sich etwas auszusuchen, was andere schrecklich finden. Und ein nicht „normales“ Kind ist in unserer Gesellschaft für viele nicht vorstellbar. Wir mussten uns dann als zukünftige Adoptiveltern eines behinderten Kindes erst recht intensiven Prüfungen unterziehen und auf unsere Eignung hin befragen lassen. Wie reagiert man im Konfliktfall? Welche Motivation bringt man für diesen Schritt überhaupt mit? Erst später haben wir erfahren, dass genau an diesem Tag, während wir uns diesen Gesprächen stellen mussten, unsere Tochter Marie geboren worden war, die wir dann nach elf Wochen des Wartens bei den Bereitschaftspflegeeltern abholen durften.
DOMRADIO.DE: Hatten Sie zu keinem Zeitpunkt Sorge, den alltäglichen Herausforderungen im Zusammenleben mit einem behinderten Kind nicht gewachsen zu sein?
Zilske: Ich finde, es geht doch nicht darum, Kinder für Eltern zu finden, sondern Eltern für Kinder. Viele solcher abgelehnten Kinder wachsen dann nämlich im Heim auf, weil sie mit ihrem Handicap nicht (mehr) gewollt sind. Natürlich war das auch für uns eine enorme emotionale Umstellung, plötzlich Eltern zu sein – und das nach zwölf Jahren Ehe. Das muss man auch erst einmal üben. Und natürlich bedeutet das auch, sich von bestimmten Bildern im Kopf zu verabschieden: von einem Abiturzeugnis oder von der Tatsache, Großeltern zu werden. Man verabschiedet sich von einem Leben im Mainstream und von dem, was gesellschaftlich gedacht ist. Das ist schwer, aber das hat auch eine ungeheuer befreiende Seite. Mit einem Mal muss man dieses diktierte Leistungsdenken nicht mehr bedienen.
DOMRADIO.DE: Bedeutet das aber nicht vor allem auch Verzicht auf eigene Wünsche und Vorstellungen oder zumindest immer wieder auch Einschränkung?
Zilske: Menschen mit Behinderung sind ja gesund, auch wenn viele das so nicht definieren. Und da ich nicht weiß, wie das Leben mit einem nicht-behinderten Kind ist, hat unser Leben für mich absolute Normalität. Ich kenne nichts anderes und bin glücklich mit dem, was ist. Wir fanden unsere Tochter von Anfang an so süß und charmant. Damit war es Liebe auf den ersten Blick. Sie war unser Kind, unser Wunschkind.
DOMRADIO.DE: Wie waren die Reaktionen Ihres Umfeldes auf diese Entscheidung?
Zilske: Groß gewundert hat das niemanden, der mich kennt, weil diese Wahl zu mir passt. So wie ich ohne Schuhe auf der Straße laufe, habe ich mich auch in dieser wichtigen Frage anders positioniert. Die Leute schauen doch sowieso immer, wenn etwas von der Norm abweicht. Aber da ich ein gnadenlos optimistischer Mensch bin, macht mir das nichts aus. Es gibt so viel Schönes. Man muss nur empfänglich dafür sein. Natürlich zögerten die Leute beim Blick in den Kinderwagen kurz. Einmal meinte jemand sogar: Ach, wie reizend, ein chinesisches Kind… Aber auch das haben wir dann mit Humor genommen, es war ja nicht böse gemeint. Uns war nur auch schnell klar, dass wir ein Geschwisterchen für Marie wollten, und haben dann nach anderthalb Jahren noch Lilly bekommen. Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei, heißt es doch. Und in der Tat sind die beiden nun ein tolles Team und unterstützen sich gegenseitig.
DOMRADIO.DE: Das hört sich alles so leicht an…
Zilske: Down-Syndrom bedeutet eine kognitive Beeinträchtigung. Aber je mehr man darüber weiß, desto leichter ist es in der Tat, mit dieser Behinderung umzugehen. Zum Beispiel können Kinder mit Down-Syndrom nicht zwei Dinge gleichzeitig tun. Dafür reicht ihre Gedächtnisleistung einfach nicht aus. Das Aufmerksamkeitsfenster ist kleiner. Und man muss wissen: Down- Syndrom ist nicht gleich Down-Syndrom. Der Schweregrad kann sehr unterschiedlich sein, auch wenn der Chromosomendefekt derselbe ist. Das erlebe ich auch an den unterschiedlich ausgeprägten Kompetenzen meinen Töchter: Marie kann viel mehr Dinge denken, dafür ist sie in den Alltagskompetenzen eingeschränkter.
DOMRADIO.DE: In der von Ihnen vor 18 Jahren initiierten Selbsthilfe- bzw. Spielgruppe für Down-Kinder und ihre Eltern erleben Sie vieles, was diese betroffenen Familien bewegt…
Zilske: Natürlich weiß ich, dass am Anfang einer Trisomie 21-Diagnose zunächst die übliche Abwehr-Reaktion erfolgt. Im Regelfall setzt bei den Eltern eine große Traurigkeit ein; die Welt zerfällt in Scherben. So hatten sie sich das nicht vorgestellt. Dabei ist nicht unerheblich, wie eine solche Nachricht seitens des Arztes kommuniziert wird. Denn je besser die Diagnosevermittlung erfolgt, das heißt, wie sich der behandelnde Arzt selbst positioniert oder eben auch werbend und positiv über das zu erwartende Kind spricht – trotz seiner Behinderung – desto besser können Eltern damit umgehen. Das sagen in der Gruppe alle, die durch diese Phase durchgegangen sind. Und auch: dass sie es nicht mehr anders haben wollten.
DOMRADIO.DE: Wie sieht es mit dem Mehr an Fürsorge aus?
Zilske: Kinder mit Down-Syndrom benötigen nicht grundsätzlich von allem mehr. Sie brauchen mehr Eltern, würde ich sagen. Sie benötigen Krankengymnastik und andere Therapien, weil sie infektanfälliger sind. Sie verfügen über weniger Muskelanspannung und müssen zeitintensiver gefüttert werden. Barrierefreiheit heißt übersetzt für Kinder mit geistiger Behinderung zum Beispiel, eine leicht verständliche Sprache zu gebrauchen. Diese gezielte Förderung braucht Zeit. Aber gerade in der Kleinkindzeit sind es auch sehr liebe Kinder, die wenig schreien und überhaupt weniger Verhaltensprobleme haben. Man muss sich eben schlau machen und viel über Verhaltenstherapie wissen. Das Klischee vom ewigen Sonnenschein, der Down-Kinder sein sollen, stimmt nicht ganz. Natürlich haben auch sie ihre Phasen. Aber sie sind sehr begeisterungsfähig, leben bejahend, sind am liebsten unter Menschen und tanzen gerne. Auch Singen gehört in unserem Spielkreis mit dazu. Manche sind zugewandter als andere. Auch wenn man dazu neigt, sie als Gruppe zu sehen – Down-Kinder sind genauso Individuen wie andere Kinder auch.
DOMRADIO.DE: Man kann sicher behaupten, Sie sind mittlerweile Expertin für Kinder mit Down-Syndrom…
Zilske: Jedenfalls habe ich von Anfang an immer sehr genau hingeschaut, welcher der nächste Schritt sein könnte, und viel darüber gelesen. Als Förderschullehrerin in einer Regelschule bin ich eine große Inklusionsbefürworterin. Und ich behaupte: Ohne meine Töchter wäre mein Leben ganz sicher nicht so spannend, gerade jetzt, da sie erwachsen werden. Denn nun machen sie große Pläne: Die eine würde gerne in einer Kita arbeiten, die andere in der Schule. Und über das Teilhabegesetz bin ich ganz zuversichtlich, dass das auch geht.
DOMRADIO.DE: Wie stehen Sie zur Pränataldiagnostik?
Zilske: Das war für mich nie eine Frage. Meine Devise lautete: Was uns geschenkt wird, wird gewickelt. Es gibt Mütter wie mich, die sich trotz Diagnostik bewusst für ihr Kind mit Down-Syndrom entscheiden, aber es gibt auch die anderen. Und darüber urteile ich nicht. Ich habe das bewusst gewählt, daher konnte ich von Anfang an anders darauf schauen. Viele Menschen macht ein Kind mit Behinderung todunglücklich, weil sich ihre Glückserwartung nicht erfüllt. Aber dass alles planbar ist, bleibt doch eine Illusion. Und wenn es anders kommt als erwartet und man sich dann gegen das „anders“ wehrt, beraubt man sich doch selbst der Möglichkeit, dem Leben Tiefe zu geben.
DOMRADIO.DE: Leben Sie denn mit einer solchen Tiefendimension?
Zilske: Auf jeden Fall. Ich erlebe vieles viel intensiver als noch vor 20 Jahren. Und das verdanke ich zweifelsohne meinen beiden Töchtern. Sie ermöglichen mir, ein sehr schönes und sehr intensives Leben zu führen. Ich möchte sogar behaupten, wir alle vier sind noch näher als andere am Leben dran. Wir leben im Moment und verschwenden keine Zeit mit dem Gedanken, was wäre wenn…
DOMRADIO.DE: Würden Sie anderen Müttern dazu raten, sich auf einen solchen Weg einzulassen?
Zilske: Ich kann gut damit leben, dass andere für sich eine andere Wahl treffen, weil sie etwas anderes vom Leben wollen. Aber wenn ich möchte, dass sich mehr Frauen für ihr behindertes Kind entscheiden, muss man deren Bedingungen verbessern. Wir müssen als Gesellschaft unseren Blick auf Behinderung verändern und sie nicht so defizitorientiert sehen. Dann wäre auch die Akzeptanz von behindertem Leben größer und sie würde eine Form von Normalität. Ich bin eine absolut glückliche Mutter. Und ich würde alles noch einmal genau so machen. Gerade weil wir so vieles ausgrenzen, haben wir ja auch Angst davor. Man braucht schon Mut, sich in die Öffentlichkeit zu trauen. Und nur wenn sich immer mehr trauen, kommt eben auch etwas in Gang…
DOMRADIO.DE: Machen Sie sich manchmal Gedanken darüber, was aus Ihren Töchtern einmal wird, wenn Sie nicht mehr für sie da sein können?
Zilske: Wie gesagt: Nicht alles im Leben ist planbar. Und das ist auch gut so.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.