DOMRADIO.DE: Sehen Sie den europäischen Gedanken in Gefahr?
Dr. Antonius Hamers (Leiter des Katholischen Büros Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf): Ich sehe den europäischen Gedanken insofern in Gefahr, als dass die Europäische Union und damit Einigung, Frieden und Wohlstand, die wir in Europa haben, für viele Menschen offensichtlich selbstverständlich geworden sind. Die Menschen sind offenbar der Meinung, das laufe alles so weiter und das sei so selbstverständlich, dass man sich nicht weiter drum kümmern müsse. In dieser vermeintlichen Selbstverständlichkeit sehe ich die größte Gefahr.
DOMRADIO.DE: Woher kommt denn diese Selbstverständlichkeit? Woran liegt es, dass die Menschen beim Thema Europa offenbar immer einen Anschub brauchen?
Hamers: Vielleicht liegt es daran, dass Europa für manche Leute zu weit weg ist. Sie haben sich daran gewöhnt, dass wir offene Grenzen haben, dass wir eine gemeinsame Währung und Frieden und Sicherheit in Europa haben. Sie meinen, dass das eigentlich selbstverständlich für sie ist. Sie haben nichts anderes mehr kennengelernt, wie zum Beispiel Krieg und Armut in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Sie sind der Meinung, dass ihnen nichts anderes mehr passieren kann.
Frühere Generationen oder ältere Menschen, die auch den Zweiten Weltkrieg noch miterlebt haben, sind da sensibler. Sie wissen darum, dass das, was wir erreicht haben, nicht selbstverständlich ist.
DOMRADIO.DE: Aktuell wirbt die rechtsradikale NPD auf ihren Wahlplakaten mit dem Konterfei Martin Luthers. Und auch die rechtspopulistische AfD hatte in der jüngeren Vergangenheit in einem ostdeutschen Regionalverband über die sozialen Medien einen Post mit Jesus-Figur und Gottes-Slogan abgesetzt. Warum kommt gerade vom rechten politischen Rand diese Vermengung mit der Religion? Oder ist es nur Provokation?
Hamers: Das weiß ich letzten Endes nicht. Da müsste man die Parteien selber fragen. Aber es geht für mich in diesem Kontext gar nicht, dass Parteien auf der einen Seite versuchen, die christliche Botschaft auszunutzen und auf der anderen Seite ausgrenzen. Denn dann haben die vermeintlichen Retter des christlichen Abendlandes die wahrhaftige christliche Botschaft überhaupt nicht verstanden. Die christlichen Werte so für sich zu instrumentalisieren, ohne sie vorzuleben, ist nicht nachzuvollziehen.
DOMRADIO.DE: Es ist leider Fakt, dass antidemokratische und nationalistische Töne in Europa immer lauter werden. Populisten haben es schon in einer ganzen Reihe von EU-Ländern an die Spitze geschafft. Was können wir denen entgegensetzen?
Hamers: Wir können denen entgegensetzen, dass wir weiter für Demokratie, Vielfalt, Freiheit und für Einigkeit innerhalb Europas einstehen. Wir können aber vor allem entgegensetzen, dass wir zur Wahl gehen und verantwortlich von unserem Wahlrecht Gebrauch machen und die Parteien wählen, die weiterhin für eine europäische Einigung, für Demokratie, für Frieden und Aussöhnung mit anderen Ländern stehen.
Man kann sicherlich Kritik an der Europäischen Union üben, was beispielsweise die Bürokratie und teilweise auch die Bürgerferne angeht. Das steht alles außer Frage. Aber das alles rechtfertigt nicht, sich dieser Wahl und der Unterstützung für die Parteien zu entziehen, die dafür einstehen, dass Europa auch weiter noch besser werden muss.
DOMRADIO.DE: Die Kritik, die Sie gerade angesprochen haben, beinhaltet eigentlich hausgemachte Dinge. Entstehen dadurch Hürden, die es erschweren, die europäische Politik besser zu erfassen?
Hamers: Ja. Ich habe manchmal den Eindruck, dass das Negative zu sehr in den Vordergrund gerückt wird. Da werden irgendwelche bürokratischen Auflagen, die einen vielleicht nerven, in den Vordergrund gestellt. Dadurch wird der eigentliche Grundgedanke und vor allem all das Positive, was in diesen über 60 Jahren gemeinsame Europäische Union erreicht worden ist, überlagert.
Dazu zählt zum Beispiel der erreichte Wohlstand. Ich habe gehört, dass jeder Deutsche im Durchschnitt pro Jahr mit 1.000 Euro davon profitiert, dass wir in der Europäischen Union sind.
Es werden immer nur die negativen Dinge in den Vordergrund gerückt, anstatt daran zu denken, was für ein großer Vorteil das ist. Da sind zum Beispiel die offenen Grenzen in Europa zu nennen oder der Jugendaustausch oder dass wir Nahrungsmittel aus allen europäischen Ländern hier tagtäglich auf dem Tisch haben. Das sind nur ein paar materielle Vorteile.
Daneben gibt es ganz viele ideelle Vorteile. Wir haben Frieden und stehen auch deswegen in gutem Kontakt zu unseren anderen europäischen Nachbarn.
DOMRADIO.DE: Ist die europäische Idee gerade für Christen alternativlos?
Hamers: Ja, weil Europa ganz stark von unserem christlichen Glauben geprägt worden ist und weil unser christlicher Glaube nicht auf Nationalität, sondern auf eine weltweite Verbindung angelegt ist.
Paulus schreibt, dass die unterschiedlichen Nationalitäten im Christentum keine Rolle spielen. Es geht darum, dass wir in Christus geeint sind. Insofern ist jede Form von Nationalismus, Ausgrenzung und Rassismus mit unserem christlichen Glauben in keiner Weise zu vereinbaren. Dieser christliche Glaube hat Europa ganz maßgeblich geprägt. Deswegen sind wir als Christen auch in besonderer Weise verantwortlich dafür, dass es mit Europa weitergeht.
DOMRADIO.DE: Jede Stimme wird wichtig sein, um die Wahl am 26. Mai zu einem Referendum für ein demokratisches, soziales und starkes Europa zu machen. Ist das dann auch ein Aufruf insbesondere an die jungen Wähler?
Hamers: Ja. Die Brexit-Abstimmung hat ja gezeigt, dass gerade die, die eigentlich am meisten davon betroffen sind, nämlich die jungen Leute, viel zu wenig zu dieser Abstimmung gegangen sind und für Europa gestimmt haben. Das muss uns, glaube ich, eine Warnung sein.
Deswegen kann ich insbesondere nur an junge Wählerinnen und Wähler ganz stark appellieren: "Geht zur Europawahl. Engagiert euch dafür. Das ist eure Zukunft." Es ist ganz wichtig, dass dieses Projekt weitergeht, damit eben nicht wieder Krieg und Konflikte unseren Alltag bestimmen.
Ich bin als junger Referendar in den 1990er Jahren in Brüssel gewesen. Ich fand es faszinierend, da mit Referendaren, mit Praktikanten aus allen anderen europäischen Ländern zu feiern und auf rauschende Partys zu gehen und mir dann in Erinnerung zu rufen, dass unsere Großväter noch aufeinander geschossen haben. Das darf es nie wieder geben! Und deswegen sind gerade die jungen Menschen ganz dringend dazu aufgerufen, sich hier zu engagieren, zur Wahl zu gehen und mit dazu beizutragen, dass ihre eigene Zukunft auch weiterhin gesichert ist.
Das Interview führte Carsten Döpp.