DOMRADIO.DE: Von Luther kann man streiten lernen, sagen Sie. Was ist eine gute Streitkultur à la Luther?
Prof. Dr. Dr. Thomas Kaufmann (Professor und Kirchenhistoriker an der Universität Göttingen): Naja, ob Luther jetzt besonders gut gestritten hat, sei dahingestellt. Er ist ein scharfer Polemiker, aber er hat die Dinge auf den Punkt gebracht, hat Probleme angesprochen, hat Klartext geredet. Er hat, wie er in der Auseinandersetzung mit Müntzer formuliert, die Geister aufeinander platzen lassen. Also, er hat nichts unter den Teppich gekehrt, und das finde ich in manchen Situationen außerordentlich wichtig.
DOMRADIO.DE: Was würde Luther denn zu den vielen Videokonferenzen sagen, die wegen Corona jetzt die persönliche Diskussion ersetzen?
Kaufmann: Ich denke, er würde sich, das kann man an seinem Medien-Gebrauch in seiner Zeit feststellen, auf die Situation einlassen. Er würde versuchen, das Beste daraus zu machen, er würde es nutzen. Denn Medien sind dazu da, Kommunikation zu ermöglichen. Und das war für ihn in gewisser Weise das Zentrum des Glaubens. Gott kommuniziert mit uns, und wir kommunizieren untereinander. Und alles, was der Kommunikation dient, ist per se richtig und gut.
DOMRADIO.DE: Martin Luther hat auch seine Stimme während der Pestepidemie 1527 erhoben. Was hat er den Menschen ins Gebetbuch geschrieben?
Kaufmann: Er hat zunächst festgestellt, dass diejenigen, die darauf insistieren, dass das eine Strafe Gottes ist, nicht auf dem richtigen Weg sind. Gott verursacht keine solchen Katastrophen, er lässt sie allenfalls zu. Böse Geister, für ihn spielt der Teufel natürlich eine wichtige Rolle in seinem Weltbild, böse Geister initiieren dies. Gott steht auf der Seite des Lebens, Gott steht auf der Seite der Lebensrettung, Gott erfindet die Medizin, die Arznei. Und die entscheidende Weisung ist: bleibt beieinander, tretet füreinander ein, haltet Regeln ein.
Gerade auch sozusagen Distanzregeln haben natürlich schon unter den Bedingungen des Umgangs mit der Pest im 16. Jahrhundert eine Rolle gespielt. Man wusste, wenn die Menschen zu nahe aufeinander sitzen, ist das nicht gut. Meidet Feten, also dieses zusammen saufen, fressen nach dem Motto: Ist sowieso alles egal und wenn es von Gott kommt, dann können wir jetzt richtig dem Schicksal ein Angebot machen. Das hat er scharf zurückgewiesen. Und er hat natürlich eingeschärft, Leute, bleibt in eurer Verantwortung, entzieht euch der Verantwortung nicht, lasst eure Nächsten nicht hängen und haut einfach ab. Das ist schon ein ganz entscheidender Punkt: Solidarität in einer Krisensituation.
DOMRADIO.DE: Warum ist Luthers Einstellung zu streitbaren Themen für uns heute eine wichtige und ermutigende Botschaft?
Kaufmann: Ich denke, das Entscheidende ist ja, dass man, solange man streitet, man einander nicht aufgegeben hat. Insofern finde ich es auch wichtig, jetzt zum Beispiel Kontroversen, wie sie um den Rechtsextremismus in Deutschland toben, dass die in die Parlamente kommen, dass sie sozusagen öffentlich ausgetragen werden. Solange man streitet, ringt man miteinander und hat einander nicht aufgegeben. Und das ist, glaube ich, der entscheidende Punkt. Wenn man miteinander nicht mehr streitet, das kann man ja auch in menschlichen Beziehungen beobachten, dann wird es wirklich ernst. Dann hat man einander in gewisser Weise drangegeben. Streiten bedeutet letztlich, in der Hoffnung zu leben, dass man doch wieder zueinander kommen kann.
Das Interview führte Katharina Geiger.