DOMRADIO.DE: Frieden schaffen durch Waffenlieferungen. Widerspricht sich das nicht?
Andreas Lob-Hüdepohl (Theologe und Sozialethiker): Komplett widerspricht sich das nicht. Aber natürlich gibt es direkt eine Spannung. Die Leitidee einer christlichen Friedensethik ist ja nicht "gerechter Krieg", sondern "gerechter Friede". Aber zu einem gerechten Frieden gehört auch dazu, dass eine Bevölkerung ein Anrecht hat auf freie Selbstbestimmung. Zur freien Selbstbestimmung gehört im Extremen auch das Recht auf Selbstverteidigung. Wenn eine Selbstverteidigung im Sinne eines gerechten Friedens nur noch dann möglich ist, kann man unter Umständen auch Waffen liefern, die rein zur Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts notwendig sind.
DOMRADIO.DE: Verteidigungswaffen töten ja im Zweifelsfall auch Menschen. Warum macht das aus ethischer Sicht ein Unterschied, ob man die Waffen zur Verteidigung liefert?
Lob-Hüdepohl: Es gilt immer ein Tötungsverbot. Allerdings nicht, wenn ich selber in meinem Leib und Leben bedroht bin. Wenn eine Waffe, die andere tötet, leichtfertig eingesetzt werden würde, dann wäre das nicht gerechtfertigt. Aber als letztes Mittel zum Schutz meines Lebens, können Waffen geeignet sein. "Leben" ist ja nicht nur das biologische Leben, sondern auch mein Leben in Selbstbestimmung und Gemeinschaft.
Wenn das nicht mehr anders möglich ist, wenn ein Aggressor kommt und mich in meinem Leben mit Waffen bedroht, dann können Waffen geeignet sein, dieses Selbstverteidigungsrecht zu wahren. Allerdings nur als letztes Mittel. Möglicherweise sind wir in einer Situation in der Ukraine, die solche letzte Mittel auch legitimiert.
DOMRADIO.DE: Bisher hatte die Bundesregierung dem Export von Waffen in Krisengebiete nicht zugestimmt. Die Begründung war, dass man blutige Konflikte nicht weiter anheizen wolle. Was hat sich da geändert?
Lob-Hüdepohl: Erstens hat sich die Bundesregierung nie so sonderlich daran gehalten. Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien und viele Spannungsgebiete kennen wir. Man muss damit sehr sorgfältig umgehen. Im Letzten haben wir es jetzt hier mit einer Situation zu tun, die möglicherweise Verteidigungswaffen rechtfertigt. Aber das ist eine politische Einschätzung, die ich als Ethiker so nicht treffen kann. Das müssen die politisch Verantwortlichen hier ermessen. Offensichtlich ist die Situation im Ermessen der politisch Verantwortlichen so, dass sie einen letzten Ausweg nur bietet, wenn Verteidigungswaffen in bestimmten Umfange geliefert werden.
DOMRADIO.DE: 100 Milliarden Euro werden jetzt für die Bundeswehr zur Verfügung gestellt und zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungsausgaben. Ist das aus Ihrer Sicht der richtige Schritt?
Lob-Hüdepohl: Das ist eine andere Frage. Da bin ich extrem zurückhaltend. Und zwar deshalb, weil mir noch nicht einsehbar ist, dass es eine Kostenfrage ist, die die Verteidigungsbereitschaft Deutschlands oder auch der NATO erhöht. 62 Milliarden Dollar ist der Rüstungsetat Russlands. Deutschlands Rüstungsetat liegt bei 52 Milliarden. Westeuropa hat dafür 250 Milliarden Dollar. Da wüsste ich jetzt nicht, dass es am Geld mangelt, die Verteidigungsbereitschaft der NATO zu erhöhen. Das ist zunächst einmal Begründungspflichtig.
Offensichtlich müssen wir ganz andere Probleme lösen: Die Effizienz der eingesetzten Mittel muss erhöht werden. Darüber wird ja schon seit Jahren gesprochen. Insofern bin ich doch sehr erstaunt, dass auf einmal 100 Milliarden Euro in einem Sondervermögen bereitgestellt werden und man damit der Auffassung ist, man würde das Grundproblem hier beseitigen. Das ist mir zunächst nicht erklärlich.
DOMRADIO.DE: Droht uns damit ein neues Wettrüsten?
Lob-Hüdepohl: Wenn die Verteidigungsbereitschaft gesichert ist und auch da, wo es notwendig ist, erhöht wird - vielleicht ohne Rüstungsausgaben, sondern durch ein sinnfälliges Einsetzen der vorhandenen Mittel - da ist ja nichts gegen einzuwenden. Aber ein Wettrüsten wäre natürlich das Falscheste. Die Welt ist völlig überrüstet. Wenn Sie bedenken, dass alleine der Rüstungshaushalt der Vereinigten Staaten von Amerika 780 Milliarden Dollar umfasst... Nochmal zum Vergleich: 65 Milliarden in Russland. Damit will ich nicht argumentieren, Russland sei in der schwächeren Position. Das ist der Aggressor. Nicht Russland, sondern der formale Staatspräsident Putin.
Aber wenn ich bedenke, wie viel Geld für Rüstung ausgegeben wird, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass eine Erhöhung von Rüstungsausgaben die Welt sicherer macht. Ganz im Gegenteil. Es fehlt nämlich an solchen Mitteln, die tatsächlich kriegs- und konfliktverhindernd sind. Ich nenne als Beispiel die Klimakatastrophe. Wir wissen, dass bereits jetzt ein hohes Maß an Konflikten um Ressourcen, also um Rohstoffe stattfindet. Wenn sich die Abhängigkeit von bestimmten fossilen Rohstoffen verringert, dann würde man sicherlich einen deutlich höheren Beitrag zur Entspannungspolitik leisten, als jetzt noch mehr in Waffensysteme zu investieren.
Das Interview führte Hannah Krewer.