"Archen" in Deutschland verzeichnen erhöhte Nachfrage

"Es wird immer schwieriger zu helfen"

Mehr als jedes fünfte Kind wächst in Deutschland in Armut auf. Durch die steigenden Lebensmittelpreise sieht Arche-Gründer Bernd Siggelkow extreme Belastungen für benachteiligte Familien. Die Archen bekommen die Not bereits zu spüren.

Mädchen betrachtet einen fast leeren Kühlschrank / © David Pereiras (shutterstock)
Mädchen betrachtet einen fast leeren Kühlschrank / © David Pereiras ( shutterstock )
Bernd Siggelkow / © Eventpress Herrmann (epd)
Bernd Siggelkow / © Eventpress Herrmann ( epd )

DOMRADIO.DE: Inwiefern verschärfen die Ferien die Lage der Kinder und Jugendlichen derzeit? Das ist doch eigentlich eine freie Zeit, die man als Kind genießen sollte...

Bernd Siggelkow (Evangelischer Pastor und Gründer des christlichen Kinder- und Jugendwerks "Die Arche"): Wenn man von Genießen spricht, dann kann man vielleicht das Wetter genießen. Aber wenn man in finanziellen Problemen steckt, wenn man sich das normale Leben nicht mehr leisten kann, wenn man nicht genug Geld hat, um sich vernünftig zu ernähren oder überhaupt zu ernähren, dann sind die Ferien natürlich eine Belastung. Außerdem wollen die Kinder natürlich auch etwas erleben. Sie möchten gerne raus. Gut, sie können auf den Spielplatz gehen, aber am Ende der Ferien gehen sie wieder in die Schule und haben nichts zu berichten, weil sie sich nicht leisten können in den Urlaub zu fahren. Unser Problem als Archen ist, wir haben immer mehr Kinder und können zu unseren Ferien-Maßnahmen nicht mal alle Kinder mitnehmen. In den letzten Wochen sind so viele neue Kinder gekommen, weil die Situation der Menschen immer schwieriger wird.

Bernd Siggelkow

"Wenn man nicht genug Geld hat, um sich vernünftig zu ernähren oder überhaupt zu ernähren, dann sind die Ferien natürlich eine Belastung"

Der Verein „Die Arche - Christliches Kinder- und Jugendwerk e. V.“ ist ein 1995 in Berlin gegründetes evangelisches Hilfswerk, das sich gegen Kinderarmut in Deutschland engagiert.  / © Christian Ditsch (epd)
Der Verein „Die Arche - Christliches Kinder- und Jugendwerk e. V.“ ist ein 1995 in Berlin gegründetes evangelisches Hilfswerk, das sich gegen Kinderarmut in Deutschland engagiert. / © Christian Ditsch ( epd )

DOMRADIO.DE: Welche Kinder und Jugendlichen kommen zu Ihnen in die Arche?

Siggelkow: In der Vergangenheit waren es in der Regel immer Kinder aus benachteiligten Familien, die also von Transferleistungen leben, alleinerziehende Mütter mit mehreren Kindern oder auch alleinerziehende Väter, Kinder von Migranten und von Menschen, die es schwer haben in dieser Gesellschaft, von Eltern, die nicht genug Geld verdienen und ergänzend Sozialhilfe beantragen müssen. Deren Kinder besuchen unsere Einrichtungen, um dort kostenlos Mittag zu essen oder schulische Hilfen zu bekommen.

Bernd Siggelkow

"In den letzten Wochen sind so viele neue Kinder gekommen, weil die Situation der Menschen immer schwieriger wird. "

DOMRADIO.DE: Sie haben sich mit einem Hilferuf an die Öffentlichkeit gewandt. Es fehlen Ihnen derzeit 20.000 Euro im Monat. Wie kommt das?

Siggelkow: Durch die Ukraine-Situation haben wir das Problem, dass als der Krieg ausbrach, immer mehr Spenden weggebrochen sind. Zudem haben wir natürlich unglaublich viele ukrainische Familien dazu bekommen, die Hilfe gesucht haben. Dann kommen immer mehr Familien, die sich die Lebensmittel nicht mehr leisten können und fragen, ob wir ihnen Lebensmittel geben können.

Und wir haben sehr viele Spender verloren, die uns im Monat mit 20 oder 50 Euro unterstützt haben. Die schreiben uns, wir können uns das nicht mehr leisten, weil uns die Lebensmittelkosten-Erhöhungen so stark treffen, dass wir euch jetzt gerade nicht unterstützen können. Wenn es uns besser geht, dann helfen wir euch gern wieder. Dieses Geld fehlt uns.

Bernd Siggelkow

"Und wir haben sehr viele Spender verloren, die uns im Monat mit 20 oder 50 € unterstützt haben. Die schreiben uns, wir können uns das nicht mehr leisten"

DOMRADIO.DE: Gibt es denn noch genug Helfer und Helferinnen?

Siggelkow: Es gibt schon viele Menschen, die sich solidarisch erklären. Dieser Laden lebt letztendlich von Ehrenamtlichen. Wir haben in ganz Deutschland ungefähr 300 Angestellte und 300 Ehrenamtliche. Wir sind froh, dass es diese Menschen gibt, dass sie sich engagieren. Das sind nicht unbedingt reiche Leute, sondern es sind oftmals auch Menschen, die am Existenzminimum leben und die gerne etwas zurückgeben wollen. Aber für sie wird es auch immer schwieriger, den Alltag zu bewältigen. Und mit ihren Sorgen wollen sie vielleicht auch nicht die Kinder anstecken.

DOMRADIO.DE: Was fordern Sie von der Politik?

Siggelkow: Es wird für uns natürlich immer schwieriger zu helfen, weil wir gar nicht absehen können, was am Ende des Monats - alleine in diesem Monat - an Menschen auf uns zukommt, die nicht mehr klarkommen, die nicht mehr wissen, wie sie über die Runden kommen sollen. Wir erwarten natürlich von der Politik, dass nicht nur Einmal-Pakete geschnürt werden, einmalig Betriebskostenzuschüsse in Höhe von 100 oder 200 Euro gewährt werden, wenn die Energiekosten bis um 100 Prozent steigen. Das wissen die meisten mittlerweile schon. Das ist ein Tropfen auf dem heißen Stein und ich habe Angst vor der Zeit. Wir haben schon erste Familien, denen man den Strom abgedreht hat, weil sie die Nachzahlung nicht bezahlen können. Wenn dann Säuglinge in der Familie sind, macht man sich natürlich große Sorgen. Oder wenn zum Jahresende Familien, die viele Kinder oder Einschränkungen haben, die Heizung runterdrehen sollen. Die leben sowieso schon auf beengten Wohnraum und stehen in dieser Gesellschaft nicht ganz vorne. Es trifft leider immer die Kinder und das erschreckt mich unglaublich.

Bernd Siggelkow

"Es wird für uns natürlich immer schwieriger zu helfen, weil wir nicht absehen können, was allein am Ende dieses Monats an Menschen auf uns zukommt, die nicht mehr wissen, wie sie über die Runden kommen sollen"

Kinder bekommen ein Mittagessen in der Arche im Berliner Bezirk Hellersdorf / © Christian Ditsch (epd)
Kinder bekommen ein Mittagessen in der Arche im Berliner Bezirk Hellersdorf / © Christian Ditsch ( epd )

DOMRADIO.DE: Welche Unterstützung erwarten Sie oder wünschen Sie sich von der Gesellschaft an sich?

Siggelkow: Ich wünsche mir von der Regierung zum Beispiel, dass man gesunde Lebensmittel wie Gemüse steuerfrei macht. Denn ein Kind, das von Hartz lV lebt, hat nur 3,50 Euro am Tag für Lebensmittel zur Verfügung. Bei den Preisen, die wir jetzt haben, hat das Kind natürlich das Problem, dass es sich nicht gesund ernähren kann.

Bernd Siggelkow

"Es trifft leider immer die Kinder und das erschreckt mich unglaublich"

Und was ich mir von der Gesellschaft wünsche, ist auf der einen Seite Unterstützung für Organisationen wie die "Tafel" oder für die "Arche", damit sie ihre tägliche Arbeit weitermachen können, außerdem Verständnis für die Situation und vielleicht auch mal einen Appell an die Politik mehr weiterzugeben. Letztendlich verdient der Staat an der Preiserhöhung mit. Die Steuer-Einnahmen gehen ja auch an den Staat. Letztendlich braucht er diese, um die 100 Milliarden in die Rüstung zu stecken oder auch die Coronahilfen auszugleichen oder was auch immer - gar keine Frage, aber es darf unterm Strich nicht den armen Menschen und den kleinen Mann treffen.

Das Interview führte Heike Sicconi.

Welthungerhilfe warnt vor weltweiter Krise

Die Welthungerhilfe warnt vor einer drastischen Ausweitung der weltweiten Hungerkrisen. Zugleich kann die Hilfsorganisation das höchste Spendenergebnis ihrer 60-jährigen Geschichte verzeichnen. Präsidentin Marlehn Thieme wies am Dienstag vor Journalisten in Berlin darauf hin, dass Nahrungsmittel- und Transportpreise drastisch anstiegen. "Zu den wichtigsten Hungertreibern gehörten Kriege und Konflikte sowie die Folgen des Klimawandels und der Corona-Pandemie." Der Krieg gegen die Ukraine verschärfe die ohnehin dramatische Ernährungslage.

Symbolbild Hunger / © MIA Studio (shutterstock)
Quelle:
DR
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