Spätestens an diesem Samstag entscheidet sich die Tour de France. Ankunftsort der 20. Etappe ist der berühmte Wallfahrtsort Rocamadour in der Dordogne. Am folgenden Abschlusstag mit seinen diesmal 112 Kilometern Richtung Pariser Champs-Elysees wird der Führende traditionell nicht mehr angegriffen.
In Rocamadour fanden Benediktiner unter dem Fußboden ihres Kirchleins 1166 die unverweste Leiche eines Mannes. Ein fantasiebegabter Mönch erklärte ihn zum Begleiter der Gottesmutter Maria, der ihr auf der Flucht nach Ägypten gedient und sich später als Eremit in die Region Quercy in der Dordogne zurückgezogen habe. Hier, in der steilen Felswand, sei er als "Roc amator" (lat.) "Der-den-Felsen-liebt", gestorben und für seine Verdienste um Maria konserviert worden.
Benediktiner als findige Geschäftsleute
"Normal", dachten wohl die wundergläubigen Gläubigen des Mittelalters. Schließlich gab es damals keine natürliche Erklärung für solche Phänomene. Und da das Wallfahrtswesen hoch im Kurs und der Ort am vielbereisten Jakobsweg nach Santiago de Compostela lag, war der Erfolg der neuen Pilgerstätte gesichert.
Aus dem winzigen Marienheiligtum in den 120 Meter hohen Jura-Kalkfelsen über dem Flüsschen Alzou wurde mit der Zeit ein immer imposanteres Kloster. Auf engstem Raum drängen sich, teils in die Felswand hineingebaut, sieben Kirchen und Kapellen in mehreren Stockwerken. Und die Benediktiner erwiesen sich als findige Geschäftsleute.
Schon bald nach dem Fund des "heiligen Amadour" wurde eine Sammlung von 126 örtlichen Wunderberichten angefertigt und in damals außergewöhnlicher Zahl verbreitet. Die beschriebenen Wunder entsprachen dem Geschmack der Zeit: Heilung, Bekehrung, Rettung auf Reisen, zu Wasser und zu Land. Im Zentrum der Verehrung stand freilich nicht der mumifizierte Eremit selbst, sondern Maria.
Umstritten ist unter Historikern, ob es sich bei dem Marienkult von Rocamadour um die Christianisierung eines uralten lokalen Göttinnen-Kults handelt.
Bötchen an der Decke der Marienkapelle
Die "schwarze Madonna von Rocamadour", eine Holzstatue aus dem 12. Jahrhundert, trägt den Heiland auf ihren Knien - im Unterschied zur Marienverehrung des 19. Jahrhunderts, die, wie in Lourdes, auf Erscheinungen der Gottesmutter beruht und ohne jeden Bezug zu Christus auskommt. Die Madonna von Rocamadour - obwohl in einer eher wasserarmen Gegend beheimatet - gilt als Beschützerin der Seefahrer.
Davon zeugen viele kleine Bötchen an der Decke der Marienkapelle.
Aus Flandern, Deutschland, Spanien, ja sogar aus dem Nahen Osten strömten Pilger nach Rocamadour. Zu den berühmtesten zählen die Heiligen Bernhard von Clairvaux und Dominikus oder die Könige Heinrich II. Plantagenet von England, Philipp der Schöne oder Ludwig der Heilige von Frankreich. Einfachere Pilger wurden zu Stoßzeiten nachts in der mit Stroh ausgelegten Kirche einquartiert. Morgens wurde dann eine Luke in der Mitte der Basilika geöffnet und das Stroh in die Tiefe gekehrt - eine Frühform des ökologischen Tourismus.
Eine weitere Kuriosität: Bis ins 19. Jahrhundert wurden im Vorhof Nischen in den Kalkstein gegraben und darin Tote beigesetzt - wie überhaupt in der Dordogne das Leben und Bestatten in Höhlen noch bis weit ins 20. Jahrhundert verbreitet war. Die romanischen Fresken an der Außenwand der Michaelskapelle gegenüber stammen noch aus dem 13. Jahrhundert; leuchtend bunt, ohne je restauriert worden zu sein. Denn dorthin, in acht Meter Höhe direkt unter eine Felsnase, ist nie ein Sonnenstrahl gedrungen und nie ein Regentropfen gefallen.
Auf und Ab mit der Wallfahrt
Belagerer bissen sich an Rocamadour lange die Zähne aus - bis zu den Religionskriegen des 16. Jahrhunderts, in denen erstmals Schießpulver eingesetzt wurde. 1562 wurde der Ort von protestantischen Truppen erobert. Die unversehrte Leiche des "heiligen Amadour", dessen Verehrung die Hugenotten als Götzendienst empfanden, wurde verbrannt.
Auch mit der Wallfahrt ging es danach rapide bergab; die imposanten Gebäude verfielen.
Erst im 19. Jahrhundert erlebte Rocamadour eine Wiederbelebung, aber auch eine Verkitschung seiner mittelalterlichen Bausubstanz. Das Städtchen profitierte von zwei Glücksfällen: Beim Bau der Eisenbahn zwischen Paris und Toulouse lag es direkt an der Strecke. Zudem hatte die Volksfrömmigkeit einen enormen Wiederaufschwung - und damit führten nunmehr nicht mehr alle Wege nach Rom, sondern nach Lourdes, wo Maria 1858 dem Hirtenmädchen Bernadette Soubirous erschienen sein soll. Und alle Wege nach Lourdes - von Nordfrankreich, Italien und Deutschland aus - führten eben auch über Rocamadour.
Auch im 21. Jahrhundert zieht die Dordogne Gläubige aller Couleur an.
Hier, wo die Grotten von Lascaux, der Cromagnon-Mensch und zahlreiche andere Zeugen der frühesten Menschheitsgeschichte liegen, vermuten viele Sinnsucher eine besondere Bündelung spiritueller Energien. Die Dordogne ist so auch eine Hochburg des "New Age" und des europäischen Buddhismus.
Nach Rocamadour mit seinen rund 620 Einwohnern kommen heute etwa eine Million Besucher jährlich - die allermeisten als Touristen statt als Pilger. Der Souvenirhandel blüht: der übliche Plastikramsch, aber auch ein guter Wein, "Rocamadour"- Käse, die regionaltypische Gänseleber und Geflügelprodukte. Beim "Ötzi des Mittelalters" lässt sich's immer noch gut leben.