Der Strafrechtsprofessor Joachim Renzikowski fordert, das Thema Sexualität und Probleme mit dem Zölibat umfassend in der Priesterausbildung zu verankern.
Zwar begünstige das Zölibat Missbrauch eher indirekt, schreibt der Jurist in einer Stellungnahme an den nordrhein-westfälischen Landtag zum Thema Missbrauch im Kirchen-Kontext. "Denn Sexualdelikte resultieren in ihrer großen Mehrheit gerade nicht aus fehlgeleiteter Sexualität." Eine indirekte Wirkung könne sich aber daraus ergeben, "dass die Verpflichtung zur Ehelosigkeit Personen anziehen könnte, die ein gestörtes Verhältnis zu ihrer Sexualität haben".
Solche Probleme würden bislang jedoch weder in der Priesterausbildung systematisch thematisiert noch in ihrer anschließenden Tätigkeit, weil die Berufung zur Ehelosigkeit gleichsam mit der Berufung zum Priesteramt vorausgesetzt werde. Dies sei korrekturbedürftig, mahnte der Rechtswissenschaftler von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Erwiesen sei, dass autoritär-klerikale Machtstrukturen sexuellen Missbrauch begünstigten. "Besonders perfide ist es, wenn Sakramente wie die Beichte zu sexuellen Übergriffen pervertiert werden."
Experten-Anhörung der Kinderschutzkommission am 2. März
Anlass für die Ausführungen ist eine für den 2. März angesetzte Experten-Anhörung der Kinderschutzkommission des Düsseldorfer Landtags. Grundlage ist ein Antrag der SPD-Opposition zu einer wirksameren und nachhaltigeren Aufarbeitung von Missbrauchstaten.
Die SPD fordert unter anderem einen unabhängigen Kinderschutz-Beauftragten sowie eine "Wahrheitskommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs im kirchlichen Kontext". Darüber hinaus solle sich die Landesregierung im Bundesrat dafür stark machen, das Strafgesetzbuch um die Strafbarkeit des sexuellen Missbrauchs im Seelsorgeverhältnis zu erweitern.
Das Entsetzen nimmt zu
Die Bestandsaufnahme der Sozialdemokraten fällt drastisch aus: Seit knapp einem Jahrzehnt schaue die Öffentlichkeit dabei zu, wie - ohne einheitliche Standards - in der katholischen Kirche versucht werde, Missbrauch und auch dessen Vertuschung in ihren eigenen Reihen aufzuklären. "Das Entsetzen nimmt dabei zu, die Ergebnisse sind zum Teil ernüchternd, zum Teil erschütternd", heißt es in dem Antrag. Zweifelhaftes Verhalten auch oberster Würdenträger habe die Kirchen in eine tiefe Vertrauens- und Legitimationskrise gestürzt, die insbesondere ihre moralische Integrität infrage gestellt habe.
Dem Anspruch, Opfern sexueller Gewalt bestmöglich beizustehen, seien weder die betroffenen Institutionen noch der Staat gerecht geworden. "Das Umfeld, indem Missbrauch geschehen ist, reicht dabei über staatliche und private Kinder- und Jugendeinrichtungen, Sportvereine und kirchliche Einrichtungen weit hinaus und bedarf auch in NRW einer zentralen Anlaufstelle und Aufarbeitung", folgert die SPD-Fraktion. Die Kriminalitätsstatistik für 2021 zeige mit bundesweit 15 500 Fällen und einer Steigerung um 6,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr, dass sexueller Kindesmissbrauch ein großes gesellschaftliches Problem bleibe.
Das Katholische Büro Nordrhein-Westfalen begrüßt in seiner Stellungnahme zusätzliche Stellen und staatliche Anstrengungen, die dem Kinderschutz, der Prävention und der Aufklärung von Missbrauch dienen. Die katholische Kirche werde alles rechtlich Mögliche dazu beitragen und habe auch bereits viel getan.
Die katholische und die evangelische Kirche haben unter anderem verpflichtende Präventionsschulungen für Haupt- und Ehrenamtliche eingeführt. Über 300 000 seien in den vergangenen Jahren in allen fünf NRW-Bistümern geschult worden, berichtete das Katholische Büro. Ein externes Institut sei beauftragt worden, in diesem Jahr die Wirksamkeit der Präventionsmaßnahmen zu überprüfen. Zudem seien bislang "als Zeichen der institutionellen Mitverantwortung" etwa 40 Millionen Euro an Betroffene ausgezahlt worden.
Klar sei, dass die institutionelle Aufarbeitung eine juristische Aufklärung der Straftaten oder die individuelle Verarbeitung des Traumas in einer Therapie nicht ersetzen könne. Beispielhaft sei der Weg des Erzbistums Paderborn, das Mitarbeiter, die mit Betroffenen zu tun haben, zu Trauma-Fachberatern ausbilden lasse.
Weniger ein Erkenntnis- als ein Umsetzungsproblem
"Es braucht eine transparente, konsequente und schonungslose Aufklärung der Tatkomplexe und einen konsequenten Umgang mit den Beschuldigten", räumt das Katholische Büro ein. "Zum Tatkomplex gehören auch die Personen, die vertuscht oder verschwiegen haben." Zur Kritik der SPD, dass die Bistümer bei ihren gutachterlichen Aufklärungsansätzen keine einheitlichen Standards verfolgten, sei hingegen zu konstatieren, "dass wir weniger ein Erkenntnis-, als ein Umsetzungsproblem haben".
Trotz aller erkennbaren Bemühungen der katholischen Kirche in Deutschland müsse festgestellt werden, dass Reformbewegungen an ihre Grenzen stoßen, stellte Jura-Professor Renzikowski fest. "Durch staatliches Recht vorschreiben lassen sie sich nicht." Religionsgemeinschaften und Kirchen seien aber keineswegs grundrechtsfreie Räume. So entbinde das kirchliche Selbstbestimmungsrecht nicht von der Pflicht zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung.
Eine gewisse Lücke im Strafgesetzbuch in Bezug auf sexuellen Missbrauch im Seelsorgeverhältnis räumt der Strafrechtler ein. Allerdings sei sie nicht einfach zu schließen. Schließlich könne auch kein allgemeines Verbot von Sexualkontakten für Seelsorger etabliert werden. Den Zölibat darüber strafrechtlich abzusichern, wäre "eine absurde Vorstellung".