Islamwissenschaftler erläutert Auswirkungen der Türkei-Wahl

"Ein viel weltoffeneres Bild des Islam"

Was könnte sich durch die Türkei-Wahl verändern, wenn der weltoffenere Kılıçdaroğlu zum Staatspräsidenten gewählt wird? Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide erläutert, was das für die türkischstämmigen Muslime hier bedeuten würde.

Frauen mit einer türkischen Fahne / © John Wreford (shutterstock)
Frauen mit einer türkischen Fahne / © John Wreford ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Der europäische Islam sucht seine Identität. Wie wichtig ist es da, ob in der Türkei nun künftig ein konservativer, muslimisch-sunnitischer Erdoğan regiert oder ein alevitischer Kılıçdaroğlu?

Mouhanad Khorchide, Leiter des Zentrums für Islamische Theologie  / © Lars Berg (KNA)
Mouhanad Khorchide, Leiter des Zentrums für Islamische Theologie / © Lars Berg ( KNA )

Prof. Mouhanad Khorchide (Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Uni Münster): Das spielt eine entscheidende Rolle. Denn wir wissen ja aus Erfahrungen der Vergangenheit, dass es sehr stark vom Religionsministerium, von Diyanet, abhängig ist, wie sich der Islam gerade in den türkisch sprechenden Moscheen gestaltet. In der Türkei hat sich in den letzten Jahren eine Entwicklung ergeben, wo sich zum Beispiel DITIB etwas von Diyanet emanzipiert.

Aber es ist eigentlich ein offenes Geheimnis, dass es dennoch Einflüsse auf die Entwicklungen in Europa gibt. Vor allem denken wir an die letzten Jahre, wo vor allem der politische Islam in der Türkei immer stärker geworden ist. Das heißt, die Instrumentalisierung des Islams für politische Machtansprüche.

Und natürlich macht das etwas mit uns hier in Europa, wie der Islam dann repräsentiert wird, vor allem in den Ländern wie Deutschland oder Österreich, wo die Mehrheit der Muslime türkischstämmig sind.

DOMRADIO.DE: Welche Auswirkungen hat das auf den interreligiösen Dialog, ob der sunnitische Präsident bleibt oder sein alevitischer Herausforderer kommt?

Wahlen in der Türkei / © Tolga Ildun (dpa)
Wahlen in der Türkei / © Tolga Ildun ( dpa )

Khorchide: Ich glaube, dass das Alevitentum an sich nicht die entscheidende Rolle spielt. Im Gegenteil, die Betonung von ethnischen oder konfessionellen Zugehörigkeiten ist sogar kontraproduktiv in der Türkei.

Den Kandidaten Kılıçdaroğlu macht aber aus, dass er einen Islam jenseits des politischen Islams repräsentiert und den Islam vertritt, der viel weltoffener ist als das, was wir in den letzten Jahren erfahren haben.

Das bedeutet, der interreligiöse Dialog wird offener. So erwartet man auch, dass er offener geführt wird, dass überhaupt ein viel weltoffeneres Bild des Islams gegeben wird.

Die Ergebnisse am Sonntag werden uns erst einmal zeigen, was sich durchgesetzt hat. Die nächsten Jahre werden uns auf alle Fälle zeigen, in welche Richtung der Islam in Europa geht.

DOMRADIO.DE: Viele türkischstämmige Menschen, die hier leben in Deutschland, fühlen sich dem Amtsinhaber Erdoğan sehr verbunden. Sagt das etwas in Ihren Augen über das Verständnis der Leute gegenüber Religion aus oder ist das eher eine politisch motivierte Aussage? 

Stuttgart: Wahlberechtigte Türken stehen vor einem Wahllokal zur Abstimmung für die Türkei-Wahlen / © Bernd Weißbrod (dpa)
Stuttgart: Wahlberechtigte Türken stehen vor einem Wahllokal zur Abstimmung für die Türkei-Wahlen / © Bernd Weißbrod ( dpa )

Khorchide: Etwa 66 Prozent der Türkeistämmigen, die hier in Deutschland leben, haben letztes Mal Erdoğan gewählt. Und wir wissen, dass sie zum Großteil nicht religiös sind. Das heißt, es waren nicht religiöse Motive. Bei manchen schon, aber bei der Mehrheit nicht, sondern es sind vor allem Identitätsverunsicherungen.

Viele Türkeistämmige sagen: Hier in Deutschland lebe ich in der zweiten, in der dritten Generation. Die Frage der Zugehörigkeit, gehören wir hierher oder nicht, wird von der sogenannten Mehrheitsgesellschaft immer wieder infrage gestellt. Das heißt, man stellt die Zugehörigkeit zu Deutschland in Frage.

Jetzt kommt ein Präsident, der in den letzten Jahren immer wieder Wahlkampf in Deutschland geführt hat und immer wieder betont: Vergesst nicht, ich bin euer Präsident und ich erkenne euch an und komme auf euch mit offenen Armen zu. Das heißt, er bietet hier eine Identifikationsfigur für viele Türkeistämmige, was nicht heißt, dass das realpolitisch eine Bedeutung für die Menschen hier hat.

Denn man weiß auch folgendes von vielen Gesprächen mit denen, die Erdoğan gewählt haben. Wenn man sie fragt, ob sie sich vorstellen können unter Erdoğan in der Türkei zu leben, dann wollen sie das nicht. Das heißt, die Menschen wollen nicht realpolitisch wirklich in der Türkei leben. Aber sie identifizieren sich mit einem Erdoğan, der immer wieder die nationale Identität und Zugehörigkeit zur Türkei betont, zum Teil auch im Namen der Religion.

Aber gleichzeitig besteht das Gefühl, dass die Gesellschaft sie nicht so annimmt, wie sie sind. Das heißt, es ist auch ein Alarmzeichen für die "Mehrheitsgesellschaft", ob wir es schaffen, Räume für Türkeistämmige zu bieten, damit sie sich mit Deutschland identifizieren.

DOMRADIO.DE: Dieses Phänomen kann man häufiger beobachten. Menschen in der Diaspora halten an den Traditionen aus ihrem Heimatland fest. In Deutschland wird das oft als Vorwurf ausgelegt, dass sie sich nicht integrieren. Inwieweit ist das problematisch?

Khorchide: Das ist insoweit problematisch, wenn man hier mit dem Zeigefinger kommt und nicht versucht, die Herausforderung zu verstehen. Das sind Menschen, die hier geboren und aufgewachsen sind. Sie leben schon in der dritten Generation hier. Das heißt, ihre Eltern sind auch hier geboren und aufgewachsen. Vielfach wird aber die Rhetorik verwendet "wir Deutsche und ihr" statt von einem großen "Wir" zu sprechen.

Das macht etwas mit den Menschen. Das verunsichert die Menschen und verhindert auch diese Identifikation mit diesem großen "Wir". Das hat nichts mit Integration zu tun, sondern das hat mit der Suche nach einem Kollektiv zu tun. Wo gehöre ich hin? Und zu welchem Kollektiv? Das ist keine Einbahnstraße.

Das heißt, sowohl die "Mehrheitsgesellschaft" muss Räume schaffen für die Menschen und sich damit identifizieren, aber auch die andere Seite. Natürlich muss sie hier auch auf die Gesellschaft zugehen.

Wir beobachten aber, dass immer wieder Spannungen stattfinden, zum Teil auch durch den "politischen Islam" in Deutschland und in Europa. Er hat großes Interesse an einer Polarisierung. Da wird der Westen, wird Europa als Feindbild in den Augen des politischen Islams kommuniziert.

DOMRADIO.DE: Wird der Ausgang der Wahl am Sonntag in der Türkei eine spürbare Auswirkung haben, was den interreligiösen Dialog in Deutschland oder auch in Europa angeht?

Khorchide: Definitiv. Wenn sich weiterhin der politische Islam in der Türkei stark macht, wird das den interreligiösen Dialog schwächen beziehungsweise weiterhin nur oberflächlich machen, sodass man nur nette Gespräche führt.

Aber es geht nicht wirklich um Anerkennung des Anderen in seiner Andersheit, wenn die Wahl so ausgeht, dass in Zukunft ein weltoffeneres Islambild kommuniziert und getragen wird. Natürlich wird es auch für mehr Öffnung Richtung anderer Religionen und Weltanschauungen sorgen. 

Das Interview führte Uta Vorbrodt.

Türkei-Wahl endet im Ausland - hohe Beteiligung in Deutschland

Für rund 3,4 Millionen Wahlberechtigte im Ausland endet an diesem Dienstag die Abstimmung für die Parlaments- und Präsidentschaftswahl in der Türkei. Unter den 1,5 Millionen Menschen in Deutschland mit türkischem Pass zeichnet sich eine hohe Wahlbeteiligung ab. Binnen elf Tagen - also zum Stand am vergangenen Sonntag - haben in Deutschland 642 000 Personen gewählt, berichtete Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien in Essen. Im Vergleich zur letzten Wahl 2018 bedeute das einen Zuwachs von gut 19 Prozent.

Wohin steuert die Türkei? / © Lukas Schulze (dpa)
Wohin steuert die Türkei? / © Lukas Schulze ( dpa )
Quelle:
DR
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