Mazyek blickt auf Wahlverhalten der Türken in Deutschland

"Das müssen wir schonungslos analysieren"

Warum haben viele der 1,5 Millionen türkischen Wahlberechtigten in Deutschland Erdogan gewählt? Der Vorsitzende des Zentralrat der Muslime, Aiman Mazyek, sieht einen Grund dafür in fehlender Bemühung Deutschlands um die Deutschtürken.

Symbolbild Eine Frau schwenkt eine türkische Fahne / © Alexandros Michailidis (shutterstock)
Symbolbild Eine Frau schwenkt eine türkische Fahne / © Alexandros Michailidis ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Erdogan steht für den sunnitischen Islam. In den letzten 20 Jahren unter Erdogans Regierung in der Türkei hat sich die Situation für Minderheiten immer weiter verschlechtert. Was wird das für muslimische Minderheiten beispielsweise in Deutschland und in der Türkei selbst bedeuten, dass Erdogan nun Präsident bleibt?

Aiman Mazyek / © Jannis Chavakis (KNA)
Aiman Mazyek / © Jannis Chavakis ( KNA )

Aiman Mazyek (Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland): Die ganze Einteilung in religiöse Schienen ist schon einmal ein Kardinalfehler, den wir immer wieder machen. Denn so gehen wir Propagandisten, wie auch im Wahlkampf in der Türkei gesehen, auf den Leim.

Es hilft uns nicht weiter, wenn wir dieses Phänomen nun islamisieren oder christianisieren. Wir müssen uns einfach ein Stück weit an die eigene Nase packen. Die Angebote, die Deutschland, die wir als Land, den Deutschtürken gemacht haben, sind einfach nie ausreichend gewesen.

Jetzt schielen sie immer wieder auf die Belange und die Situation in der Türkei, obwohl das überhaupt nicht ihr Leben ist. Das Leben findet hier in Deutschland statt. Ich finde es fast schon märchenhaft, wie man beschreibt, dass Erdogan so unglaublich attraktiv sei.

Das ist er gar nicht, auch sein Wahlkampf war es nicht. Wir sind einfach zu schlecht hier. Wir haben ganz viele Baustellen, die wir einfach nicht angegangen sind.

Es gab am Pfingstmontag das Gedenken zu 30 Jahre Solingen. Die Familie Genç hat dabei zu Recht darauf hingewiesen, dass ihre Geschichte kaum Einzug in die Schulbücher gehalten hat.

Aiman Mazyek

"Nichts ist passiert. Ich glaube, dass das viele Deutschtürken enttäuscht, die dann auch populistischen Scharlatanen auf den Leim gehen."

Wir diskutieren die doppelte Staatsbürgerschaft und wollen ein ganz modernes Staatsbürgerschaftsrecht haben. Viele andere Länder haben das bereits, wir aber nicht. In Bremen haben fast 20 Prozent der unter 16-jährigen mit ausländischem Hintergrund nicht wählen können.

Wir müssen auch darüber reden, warum es für manche, die in Deutschland geboren sind, attraktiver ist, sich für ein türkisches Parlament zu bewerben. Wir haben inzwischen zwei Ex-Generalsekretäre, die sich für das türkische Parlament beworben haben. Warum haben die sich nicht für den Deutschen Bundestag beworben?

Wir müssen einfach besser werden und auch schauen, dass wir Versprechungen halten. Vor 30 Jahren wurde ein EU-Beitritt der Türkei diskutiert. Nichts ist passiert. Ich glaube, dass das viele Deutschtürken enttäuscht, die dann auch populistischen Scharlatanen auf den Leim gehen.

Das müssen wir knallhart und schonungslos analysieren.

Ich bin nicht der Meinung, dass Erdogan mit seinem Programm so unheimlich attraktiv war. Aber wir sind einfach so desolat und so schlecht, dass sich diese jungen Menschen von seiner Politik angezogen fühlen.

Wir müssen in den Mittelpunkt unserer Diskussion stellen, was wir hier in Deutschland machen können und nicht, was in der Türkei passiert. In der Türkei können wir nur begrenzt etwas verändern. Hier in Deutschland können wir hingegen etwas verändern.

Zentralrat der Muslime

Von den etwa vier Millionen in Deutschland lebenden Muslimen ist nur ein Teil in religiösen Gemeinden oder Vereinen organisiert. Religiöse Gemeinschaften müssen keine Mitgliederzahlen nennen - eine exakte Übersicht gibt es nicht.

Der Zentralrat der Muslime in Deutschland mit Sitz in Köln ist der bekannteste der Verbände. Er hat 24 muslimische Organisationen als Mitglieder. Unter den Dachverbänden gehört er aber zu den kleinen - mit 300 Moscheegemeinden und 15 000 bis 20 000 Mitgliedern. Damit vertritt er eine Minderheit der Muslime in Deutschland. (dpa)

Symbolbild Islam / © okanozdemir (shutterstock)

DOMRADIO.DE: Christinnen und Christen hatten es in der Türkei unter Erdogan bisher auch nicht leicht. Wird er denn die Stellschrauben bezüglich der religiösen Freiheit weiter anziehen? Wie schätzen Sie das ein?

Mazyek: Wir müssen ganz nüchtern feststellen, dass in seiner Ägide durchaus viele Liegenschaften, die damals am Ende des Osmanischen Reiches, in der Übergangsphase vom Staat konfisziert worden sind, wieder den christlichen, teilweise auch jüdischen Gemeinden zurückgegeben wurden. Der Staat hat da auch viel Geld in die Hand genommen und einiges gemacht.

Da ist aber auch noch viel Luft nach oben. Im Kontext des interreligiösen Dialogs gibt es noch Arbeit und Möglichkeiten für die Türkei – gerade auch, wenn man überlegt, wie viele Nachbarländer, wie die Turk-Staaten (Als Turkstaaten werden die turksprachigen Republiken Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan, Türkei und Turkmenistan bezeichnet, Anm. d. Red.) und die muslimischen Staaten, dieses Feld für sich entdeckt haben.

Der Papst reiste nach Arabien und es stehen weitere solche spektakulären Begebenheiten und auch unterschriftsreife Vereinbarungen an. Es würde der Türkei auch gut zu Gesicht stehen, in diesem Bereich etwas zu machen.

Aiman Mazyek

"Es war erschreckend, mit welcher Wortwahl da Stimmung gemacht worden ist, gerade auch gegen Minderheiten."

Da sehe ich viel Luft nach oben und auch Möglichkeiten, dass wir als Religionsgemeinschaften, das heißt als Muslime, Christen, Juden, ein Stück weit Versöhnung leisten können. Gerade jetzt im Wahlkampf haben viele Beschädigungen und Verletzungen stattgefunden.

Wir müssen uns klarmachen, dass das Land unglaublich gespalten ist. Das war ja kein haushoher Sieg einer Fraktion, sondern ein knapper Sieg – auch wenn es andersherum gewesen wäre. Das Land ist gespalten. Wir haben eine unglaubliche Polarisierung des Wahlkampfs erlebt, teilweise mit rassistischen, nationalistischen Zügen.

Es war erschreckend, mit welcher Wortwahl da Stimmung gemacht worden ist, gerade gegen Minderheiten. Übrigens nicht nur gegen Aleviten und Kurden, sondern beispielsweise auch gegen Syrer in der Türkei. Das sind Verwerfungen und Beschädigungen, die man nicht einfach so wegwischen kann. Da müssen wir natürlich auch genau hingucken.

DOMRADIO.DE: Der türkische Wahlkampf war auch religiös geprägt. Wie hat sich das Ihrer Meinung nach ausgewirkt?

Mazyek: Ich habe das mit einer Mischung aus Abscheu und Erschrecken festgestellt, dass man da viele religiöse Momente hineingebracht hat. Ich bin ein Gegner dieser Art des Wahlkampfes. Ich denke, Religion muss da rausgehalten werden und davon getrennt werden.

Dieser Schulterschluss ist nicht gut. Weder passt er in unsere Zeit heute, noch passt er zur Türkei. Das war etwas, was gerade auch viele deutsche Muslime hierzulande mit Befremden beobachtet haben.

Das Interview führte Tim Helssen.

Autokorsos nach Erdogan-Wahlerfolg

Nach dem Wahlsieg Recep Tayyip Erdogan gab es in NRW am Sonntagabend in mehreren Städten Sympathiebekundungen für den türkischen Präsidenten. In Gelsenkirchen kamen in der Spitze über 1.000 Menschen zusammen, wie die Polizei am Montag mitteilte. Wiederholt sei Pyrotechnik gezündet worden. Gegen einen 34-jährigen Mann erging demnach eine Anzeige. Die Polizei sperrte zur Sicherheit den Bereich zwischen Bismarck- und Hohenzollernstraße sowie Trinenkamp für mehrere Stunden.

Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan fahren in einem Autokorso mit türkischen Fahnen jubelnd durch Duisburg / © Christoph Reichwein (dpa)
Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan fahren in einem Autokorso mit türkischen Fahnen jubelnd durch Duisburg / © Christoph Reichwein ( dpa )
Quelle:
DR