Im Gottesdienst spielt der Kuss eine wichtige Rolle

"Überspitzt formuliert: Keine Messe ohne Küssen"

Der 6. Juli ist der Tag des Kusses. Küssen gibt es in der Eucharistiefeier an mehreren Stellen. Der Theologe Bieringer erklärt das Phänomen des liturgischen Kusses und warum Gemeinden im deutschsprachigen Raum damit eher fremdeln.

Papst Franziskus küsst den Altar - dieser Kuss steht am Anfang jeder katholischen Messe / © Vatican Media/Romano Siciliani (KNA)
Papst Franziskus küsst den Altar - dieser Kuss steht am Anfang jeder katholischen Messe / © Vatican Media/Romano Siciliani ( KNA )

DOMRADIO.DE: Bei Hochzeiten spielt der Kuss nach der Vermählung oft eine große Rolle. "Sie dürfen die Braut jetzt küssen". Das hört man nicht nur in Hollywoodfilmen. Das dürfte aber nicht Teil der offiziellen Liturgie bei der Braut-Messe sein, oder?

Prof. Dr. theol. habil. Andreas Bieringer, lehrt seit 2017 Liturgiewissenschaft in Sankt Georgen und hat den Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft, Hymnologie und christliche Kunst inne.  / © Angelika Zinzow
Prof. Dr. theol. habil. Andreas Bieringer, lehrt seit 2017 Liturgiewissenschaft in Sankt Georgen und hat den Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft, Hymnologie und christliche Kunst inne. / © Angelika Zinzow

Prof. Dr. Andreas Bieringer (Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft, Hymnologie und christliche Kunst an der Phil.-Theol. Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main): Da haben Sie völlig recht. Es ist ein Ritual, das wohl über die Hollywoodfilme in unsere Praxis eingewandert ist. Das eigentliche "Rituale", das ist das Buch für die Trauung, sieht solche Küsse nicht vor. Viele halten es auch für unangebracht. Es ist natürlich die Frage: Darf man in der Liturgie überhaupt küssen?

DOMRADIO.DE: Das ist die Frage, die wir gerade klären wollen. Denn warum gibt es denn den Kuss im Gottesdienst überhaupt? Man stellt sich ja so eine Messe vielleicht eher keusch und unkörperlich vor, oder?

Bieringer: Vielleicht auf den ersten Blick, aber das hat mehr mit Vorurteilen als mit der Realität zu tun. Man könnte etwas überspitzt formulieren: Keine Messe ohne Küsse.

DOMRADIO.DE: Das müssen wir jetzt ein bisschen klären. Der regelmäßige Gottesdienstgänger sieht den Priester ganz zu Beginn den Altar küssen. Was ist denn der Gedanke dahinter?

Andreas Bieringer

"Der Altar symbolisiert Christus. Und in diesem Sinn wird der Altar auch geküsst, eben als Verehrungs- und Begrüßungskuss."

Bieringer: Es wird mindestens zwei, wenn nicht dreimal in der Messe geküsst. Der Priester betritt zunächst die Kirche, dann den Altarraum und küsst den Altar als Zeichen der Verehrung. Der Altar symbolisiert Christus. Und in diesem Sinn wird der Altar auch geküsst, eben als Verehrungs- und Begrüßungskuss.

DOMRADIO.DE: Wie genau ist denn so ein Kuss gemeint, ist er nun sozusagen körperlich gemeint oder unkörperlich? Oder kann man das gar nicht so pauschal sagen für den Gottesdienst?

Bieringer: Ich glaube, jeder Kuss ist körperlich und der Körper hat ja im Gottesdienst eine große Bedeutung. Wir sprechen ja viel von Leib, von Leibwerdung der eucharistischen Gaben, aber das betrifft auch uns als Gottesdienstteilnehmende, wir werden zum Teil des Leibes Christi. In diese Rhetorik, in dieser Sprache wird schon angedeutet, dass die Liturgie ohne Leib und Körper gar nicht zu denken ist.

Diakon hält ein Evangeliar in die Höhe / © Elisabeth Schomaker (KNA)
Diakon hält ein Evangeliar in die Höhe / © Elisabeth Schomaker ( KNA )

DOMRADIO.DE: Dann gibt es noch die nächste Gelegenheit im Gottesdienst, denn das Evangeliar am Ende des Wort-Gottesdienstes wird geküsst, also nach dem Verlesen des Evangeliums. Auch da wieder die Frage: Warum wird dann die Bibel, das Evangeliar geküsst?

Bieringer: Altar und Bibel werden geküsst, beides steht für Christus selbst und führt uns zugleich in die Messe, in die wichtigsten Brennpunkte ein: der Altar und der Ort der Wort-Verkündigung, der Ambo, das sind die beiden Brennpunkte und die werden verehrt im Sinne eines Kusses.

DOMRADIO.DE: Ein weiterer Kuss - und ich denke, da geht es auch um Verehrung, ist ja bei der Karfreitags-Liturgie. Da gibt es die Kreuzverehrung. Das Kreuz wird feierlich enthüllt und dann wird es verehrt. Die Laien belassen es meistens mit einer Verbeugung oder Kniebeuge mit einer gewissen Distanz. Aber der Klerus küsst meistens das Kreuz. Warum ist das so?

Bieringer: Der Fußkuss ist eine alte Geste. Die ganze Tradition des Küssens kommt aus der Antike und ist ein Relikt dieser Zeit, das bei uns bis heute in der Liturgie Bestand hat. Der Handkuss, aber auch der Fuß-Kuss als besonders inniges Zeichen der Verehrung.

DOMRADIO.DE: Wenn man mal den Blick aus der Liturgie wegnimmt Richtung Papst, da gab es den Ringkuss. Kardinälen wird bis heute oft noch der Bischofsring geküsst. Die Verehrung, so wie wir das vielleicht aus früheren Jahrhunderten kennen, die gibt es ja in der Form eigentlich kaum noch, oder?

Papst Franziskus wird bei seiner Ankunft am von einem Prälaten mit einem Handkuss begrüßt / © Vadim Ghirda (dpa)
Papst Franziskus wird bei seiner Ankunft am von einem Prälaten mit einem Handkuss begrüßt / © Vadim Ghirda ( dpa )

Bieringer: Nein, aber dahinter steht natürlich schon die besondere Autorität eines Bischofs oder gar des Bischofs von Rom, des Papstes, obwohl der jetzige Papst nicht viel davon hält. Er will nicht, dass man ihm den Ring küsst. Aber natürlich sind die Bischöfe in der Nachfolge der Apostel und in diesem Sinn ist der Kuss eine Ehrerbietung, die heute aber kaum mehr oder wenig praktiziert wird.

DOMRADIO.DE: Dann schauen wir noch mal kurz auf den Gottesdienst zurück. Da hat sich ja durch Corona auch so einiges geändert. Vor Corona hat man sich beim Friedensgruß die Hand geschüttelt. Man kann beobachten, dass das viele Menschen heute nicht mehr unbedingt so machen. Hat sich das beim Thema Küssen auch geändert, sind die Priester vielleicht heute etwas vorsichtiger geworden?

Zwei Hände reichen sich zum Friedensgruß / © mikeledray (shutterstock)
Zwei Hände reichen sich zum Friedensgruß / © mikeledray ( shutterstock )

Bieringer: Das ist eine gute Frage. Natürlich sind wir vorsichtiger geworden. Hygiene-Maßnahmen, die während Corona getroffen wurden, werden heute oft noch angewandt wie Händewaschen oder Desinfizieren der Hände. Aber Sie sprechen noch einen anderen Punkt an: Wer küsst eigentlich wen? Wir haben sehr viel darüber gesprochen, dass der Kuss auf Priester, auf Kleriker zentriert ist. Wenn man küsst, dann küsst der Priester oder der Diakon im Gottesdienst.

Andreas Bieringer

"Der eigentliche Sitz des Kusses ist der Friedensgruß."

Aber die Frage, wo ist eigentlich der Ort, dass auch Laien, das gläubige Volk im Gottesdienst küssen darf? Da kommen wir zu einem wichtigen Gestus. Der eigentliche Sitz des Kusses ist der Friedensgruß. Über ganz lange Zeit hinweg wurde der Friedensgruß in Form eines Kusses vollzogen.

DOMRADIO.DE: Warum gibt es ihn dann heute nicht mehr, wenn Sie sagen, dass er so lange üblich war?

Bieringer: Wir haben in etwa 1000 Jahre die Liturgie ganz vom Klerus her gedacht, und vielleicht kommt jetzt eine Zeit, dass wir die Liturgie mehr vom gläubigen Volk aus denken müssen. Wir sehen, dass der Kuss sozusagen weg gewandert ist, sukzessive aus dem Bereich der Gläubigen hin zum Klerus.

Vielleicht ist jetzt eine Zeit gekommen, um wieder nachzudenken, wo können denn auch sinnvoll Gläubige küssen in der Liturgie? Das ist natürlich etwas überspitzt formuliert, aber es geht doch um sinnliche Elemente in der Liturgie. Da, glaube ich, hat auch der Kuss seinen Platz. Und wir müssen uns überlegen:

Wie kann denn dieser Friedensgruß heute ausschauen, wenn doch durch Corona das Händeschütteln bei uns meistens wegfällt. Jetzt stellt sich die Frage: Wie kann man denn diesen Frieden ausdrücken? Ist nicht der Kuss auch eine mögliche Form, diesen Frieden weiterzugeben?

DOMRADIO.DE: Das ist doch mal eine interessante Anregung. Man muss ja auch sagen, bei anderen christlichen Konfessionen ist das Küssen durchaus bei den Laien verbreitet, etwa bei den Ostkirchen. Da werden ja die Ikonen sehr oft geküsst. Welcher Gedanke steckt da dahinter?

Frau küsst eine Bibel / © Friedrich Stark (epd)
Frau küsst eine Bibel / © Friedrich Stark ( epd )

Bieringer: Ikonen werden geküsst und auch Reliquien. Die Ikone ist in der Orthodoxie so etwas wie ein Fenster zum Himmel und es repräsentiert Christus oder Maria oder Heilige in einer ganz besonderen Weise. Das Bild ist weit mehr als als nur eine Abbildung, es geht um Verehrung und das geschieht durch den Kuss.

DOMRADIO.DE: Sie haben es eben schon ein bisschen angesprochen. Eventuell müssen wir den Kuss wieder neu von den Laien her denken. Was machen wir denn mit den Menschen, die das überhaupt nicht wollen? Es gibt ja auch schon welche, die sich gegen eine Kelch-Kommunion sträuben, also dem gemeinsamen Trinken aus einem Gefäß...

Bieringer: Natürlich ist das immer eine Frage der Kultur. Und viele sagen: Kuss, so viel Nähe, das passt doch gar nicht zu uns in den deutschsprachigen Raum. Wir sind doch reserviert und wollen unsere Ruhe.

Andreas Bieringer

"Ich würde den Kuss nicht aus der Liturgie oder aus dem Kirchenraum verbannen."

Das Problem ist nur, dass damit die Liturgie manchmal sehr steril und auf den Einzelnen beschränkt bleibt. Die Liturgie ist doch eine Gemeinschaftsfeier. Wir haben in den letzten Jahrzehnten viel über Gemeinschaft gesprochen.

Jetzt stellt sich die Frage: Wie können wir das zeitgemäß ausdrücken? Und wenn ich in die Kultur, in die Jugendkultur schaue, dann sehe ich einfach, dass der Kuss dort schon einen großen, wichtigen Stellenwert hat. In diesem Sinne würde ich den Kuss nicht aus der Liturgie oder aus dem Kirchenraum verbannen.

Das Interview führte Mathias Peter.

Liturgie

Liturgie bezeichnet im Christentum und Judentum das Verständnis und die Ordnung der Zeremonien des Gottesdienstes. Der Begriff stammt aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich übersetzt öffentlicher Dienst. Neben der Heiligen Messe gehören dazu beispielsweise Taufe, Trauung oder Bestattung. Die Formen, Regeln und Vorschriften der römischen Liturgie haben sich im Lauf der Jahrhunderte verändert; grundsätzlich legt der Papst sie fest. Dazu zählen etwa die Vorgabe bestimmter Gebete oder Regeln zum Ablauf des Gottesdienstes sowie Form und Farbe von Messgewändern.

Hochgebet auf deutsch / © Harald Oppitz (KNA)
Hochgebet auf deutsch / © Harald Oppitz ( KNA )

 

Quelle:
DR