Annette Schavan äußerte sich beim Panel "Demokratie in der Krise" des Friedenstreffens von Sant'Egidio, das vom 10. bis 12. September in Berlin stattfindet. DOMRADIO.DE dokumentiert die Rede im Wortlaut:
Das Ende des Kalten Krieges, der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung Europas – das war eine große Zeit für die Demokratie und die damit verbundene Überzeugung, dass der Siegeszug der Freiheit unaufhaltsam ist. Bush, Gorbatschow, Thatcher, Mitterand – sie alle haben Ja zu einem wiedervereinigten Deutschland gesagt und dazu, dass Europa nun wieder – in den Worten von Papst Johannes Paul II. – mit beiden Lungenflügeln atmen kann.
Dieses Ziel zu erreichen, war auch ein Schlüssel zum Verständnis seines Pontifikates. Die Erweiterung der Europäischen Union ging mit grossen Schritten voran. In Deutschland waren wir nun davon überzeugt, von Freunden umgeben zu sein. Politische Prioritäten konnten neu gesetzt werden. Freiheit ging vor Sicherheit. Der "Geist von Helsinki" konnte sich nun entfalten.
Aufbruch zur Einheit
Meine Generation erlebte in Deutschland einen enormen Aufbruch hin zu einer wirklichen inneren Einheit des Landes. Die Stadt Berlin, in der wir uns zu diesem Friedenstreffen versammeln, erlebte nach 1989 eine Blüte als Bundeshauptstadt, bald auch als Sitz der Politik und all derer, die den Dialog mit der Politik suchen, als Stadt der Wissenschaft und Kultur.
Demokratie in Zeiten des Aufbruchs entwickelt Vitalität und Attraktivität, gewinnt Vertrauen und Zuversicht. Das trägt auch in schwierigen Zeiten. Das sind gute Zeiten für Kompromisse, für Debatten und die Akzeptanz von wachsender Vielfalt als Zeichen von Modernität. Das sind ebenso gute Zeiten für den Vorrang der Solidarität vor der Abschottung. Demokratie ist allerdings kein Selbstläufer.
Demokratie braucht Demokraten
Demokratie braucht Demokraten. Das klingt banal, gibt gleichwohl einen Hinweis darauf, dass die Demokratie anspruchsvoll ist und auf ausgiebige, differenzierte und anhaltende Kommunikation derer angewiesen bleibt, die Verantwortung tragen und für eine überzeugende demokratische Kultur einstehen.
Warum wächst nun aber derzeit die Zahl der "illiberalen Demokratien"? Schon die Formulierung täuscht: Illiberalität und Demokratie sind schwer vereinbar. Es steckt eine sprachliche Verführung hinter der häufig verwendeten Formulierung. So, als sei halt damit eine Demokratie gemeint, in der Vielfalt, die Suche nach Kompromissen und eben Liberalität als untauglich erkannt seien. Der Kompromiss wird kompromittiert, die Vielfalt als Abkehr von Prinzipien gewertet und die Liberalität als Ablehnung von Autorität verkannt.
Differenzierung unerwünscht
Selbsternannte Eliten erklären, die Lösung von Problemen zu leisten, klare Antworten zu geben, schneller, besser und wirksamer politisch zu entscheiden und zu handeln. Kurzum: die Welt wird auf einfache Formeln reduziert, Differenzierung ist unerwünscht, Minderheiten sind es auch und Religion wird nur dann akzeptiert, wenn sie sich als systemstabilisierend erweist.
Letztlich sprechen wir von sehr verschiedenen Varianten einer Kapitulation gegenüber der Komplexität der Wirklichkeit! Diese Kapitulation hat oft mit geschickter Verbrämung von Korruption zu tun und ebenso mit der Scheu vor der wachsenden Komplexität – in der Welt, im eigenen Land, im Leben des Einzelnen.
Hinzu kommt: Westliche Demokratien haben an Strahlkraft verloren. Dafür gibt es viele Gründe. Ich konzentriere mich auf Europa und auf wenige Gründe:
- In immer mehr Ländern Europas sind die Zukunftschancen der jungen Generation anhaltend schlecht. Milliardenschwere Programme wurden auf europäischer Ebene aufgelegt – ohne nennenswerten Effekt. Die Stärkung der Demokratie braucht die Stärkung junger Demokraten zur Teilhabe und dazu, gebraucht zu werden und beruflich und (auch politisch) gestalten zu können.
- Europa hat massiv an Selbstbewusstsein verloren. In seinen kritischen Reden über Europa hat Papst Franziskus Europa an die Wurzeln, Werte und Haltungen erinnert, die zu europäischer Stärke geführt haben. Vielfalt gehört zu diesen Stärken! Vielfalt wäre auch ein Schlüssel für die immer verzweifelter wirkende Debatte über Migration und Migranten. Manche Härte in der Debatte kaschiert die Verzweiflung über nicht gelingende zukunftsfähige Migrationspolitik, mit der Europa seine Stärke und sein Selbstbewusstsein wiedergewinnen könnte.
- Europa fehlt eine Strategie zu kultureller, sozialer und auch technologischer Innovation. Die Lissabon-Strategie sah vor, Europa bis zum Jahre 2010 "zum wettbewerbsfähigsten, dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt" wachsen zu lassen. Die sprachlichen Superlative waren der letzte Versuch, einen Aufbruch zur Innovation zu schaffen. Er ist nicht gelungen! Auch das wirkt sich auf die mentale Verfassung des Kontinents aus.
Ich nenne nur diese drei Gründe, die nach meiner festen Überzeugung beitragen dazu, dass die Vereinfacher immer mehr Zustimmung finden. Sie versprechen, was sie nie einlösen werden. Sie entfernen sich weit von den Stärken Europas, zu denen auch eine Sicht auf den Menschen gehört, die u.a. vom Christentum inspiriert ist. Sie sind weder innovativ noch solidarisch. Europa muss politische Antworten finden, die sein demokratisches Selbstbewusstsein stärken: Perspektiven der Jugend und der Migranten, Innovation und die Wertschätzung von Vielfalt gehören dazu.