DOMRADIO.DE: Wie fühlt es sich in diesen Tagen an, eine junge Jüdin in Deutschland zu sein?
Ariella Dumesch (Leiterin des Jugendzentrums der Synagogen-Gemeinde Köln: Ungewohnt. Ich empfinde ein ungewohntes Gefühl der Angst. Auf der einen Seite fühlt man natürlich Angst, auf der anderen Seite ist man aber auch stolzer als vorher. Man weiß, wer man ist, man bekennt sich ganz stark zu seiner Identität.
DOMRADIO.DE: Sie sagen, dass Sie sich nach dem 7. Oktober bedroht fühlen. Was genau hat sich verändert seit dem Angriff der Hamas?
Dumesch: Man ist vorsichtiger. Ich persönlich gehe nicht mehr alleine zur Arbeit, verlasse auch die Arbeit nicht mehr alleine. Ich arbeite in der Synagogen-Gemeinde, also im Hause der Synagoge, die sowieso immer von Polizei und Security-Leuten geschützt wird. Das ist jetzt natürlich verstärkt worden; und dennoch traut man sich nicht alleine von der Bahn zur Arbeit zu laufen oder die Davidsternkette zu tragen.
Es sind im Prinzip kleinere Dinge, die aber natürlich Auswirkungen auf den Alltag haben, die Auswirkungen darauf haben, wie wir als Bürger in Deutschland, als Bürger in Europa leben können. Da können wir uns schon fragen: "Was machen wir überhaupt hier in Deutschland?". Ich bin hier geboren, ich bin hier aufgewachsen. Ich bin deutsche Jüdin. Wie kann es sein, dass ich mich hier nicht sicher fühle? Wie kann es sein, dass ich normale Dinge nicht machen kann? Das sind Gedanken, die uns beschäftigen.
DOMRADIO.DE: Sie arbeiten im Jugendzentrum der Synagogen-Gemeinde mit jüdischen Kindern und Jugendlichen. Wie gehen Sie dort mit der schweren Situation im Moment um?
Dumesch: Wir versuchen natürlich, die ganz Kleinen zu schützen. Sie müssen nicht jede Information bekommen, die schon Erwachsene kaum ertragen. Und die Jugendlichen versuchen wir, mit Wissen zu bilden, ihnen geschichtliche Hintergründe zu vermitteln. Auch mit Wissen, das für einen normalen Alltag in ihrem Alter nicht unbedingt notwendig wäre.
Aber dieses Wissen wollen wir ihnen jetzt geben, damit sie die Möglichkeit haben, zu diskutieren und sich verbal zu verteidigen. Wir wollen sie auch auf das vorbereiten, was später als Erwachsene auf sie zukommt: Hass, Vorurteile, Antisemitismus. Wir versuchen, die Kinder so gut es geht darauf vorzubereiten und gleichzeitig davor zu schützen.
DOMRADIO.DE: Wie sehr leiden Kinder und Jugendliche hier in Köln unter den Rückkopplungen des Nahostkonflikts auf ihren Alltag?
Dumesch: Leid ist so ein Wort... Wenn wir daran denken, wie viel Leid in der Welt geschieht, leiden unsere Kinder Gott sei Dank in dieser Hinsicht nicht. Aber ihnen begegnet natürlich Antisemitismus im Alltag, in der Schule oder später auf der Universität. Sie werden verstrickt in Anschuldigungen. Sie sehen überall "Free Palestine"-Parolen und hören, dass die Hamas-Anhänger noch immer als Freiheitskämpfer gefeiert werden, obwohl sie doch eine Terrorgruppe und verantwortlich für so viel Leid sind.
Sie haben Angst, alleine auf die Straße zu gehen. Sie achten aber auch darauf, nicht in allzu großen Gruppen unterwegs sind. Sie achten darauf, dass sie ihre jüdische Identität nicht kenntlich machen. Viele meiner Freunde, die ein bisschen religiöser sind und normalerweise eine Kippa aufhaben oder ein Davidstern tragen, verzichten jetzt aus Sicherheitsgründen darauf. Jede jüdische Veranstaltung, jede jüdische Einrichtung wird noch einmal stärker bewacht und kontrolliert.
DOMRADIO.DE: Was macht das mit Ihnen, wenn Sie Bilder von pro-palästinensischen Demonstrationen sehen mit schwarzen Flaggen und Plakaten mit Holocaust-leugnenden Parolen?
Dumesch: Man sorgt sich natürlich, weil man hofft ja als Freidenker, als Mensch, dass alle in Frieden zusammenleben, dass sich die Gesellschaft entwickelt und im Guten miteinander ist. Und solche Aktionen, solche Demos, Hassparolen, Angriffe nehmen einem die Hoffnung auf Frieden, nehmen einem die Hoffnung auf Toleranz und Respekt füreinander.
Ich möchte aber auch gleichzeitig sagen, dass viele meiner nichtjüdischen Freunde und Kollegen sich an mich gewandt und mir Zuspruch zugegeben haben. Sie haben mir gezeigt, dass sie solidarisch sind, dass sie das Gleiche sehen wie wir und dass auch sie sich sorgen. Denn es trifft nicht nur Jüdinnen und Juden, es trifft die ganze westliche Gesellschaft und wir müssen etwas dagegen tun. Nie wieder ist jetzt!
DOMRADIO.DE: Sie haben Zuspruch von nichtjüdischen Freunden und Bekannten bekommen. Wie sieht es mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft aus? Würden Sie sich da noch mehr Solidarität wünschen?
Dumesch: Auf der einen Seite gibt es viele Solidaritätskundgebungen. Die sind auch gut, die sind wichtig. Auf der anderen Seite fehlt es aber an Taten, an konkretem Handeln, an schnellem Handeln der Polizei, an schnellem Handeln der Politiker. Die Rede von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck gegen Antisemitismus war ein wichtiges Zeichen für alle. Ich bin froh, dass es in Deutschland noch Menschen gibt, die einem zur Seite stehen. Aber es ist noch nicht genug. Denn wieso haben wir Zigtausende auf der Straße, die eine Terrororganisation anpreisen und schwarzen Fahnen schwenken können? Das sollte in einem Rechtsstaat nicht möglich sein. Dennoch passiert es.
DOMRADIO.DE: Beobachter sagen, dass der Krieg in Israel länger dauern wird. Sehen Sie in dieser verzweifelten Situation irgendwo einen Lichtblick?
Dumesch: Ich stimme dem vollkommen zu. Der Krieg hat gerade erst angefangen; es wird nicht nur ein Krieg im Territorium sein, es wird auch ein digitaler Krieg sein, in dem mit Propaganda Hetze betrieben wird, in dem Tatsachen verdreht werden. Es ist jetzt schon erdrückend, wie viele Fake News im Umlauf sind, um die Masse anzustacheln. Und das ist erst der Beginn.
Wir müssen uns als westliche Gesellschaft darauf vorbereiten, dass noch vieles auf uns zukommen wird.
DOMRADIO.DE: Sie haben im Vorgespräch gesagt: "Ich war immer Pazifistin, aber jetzt hat sich für mich etwas verschoben." Wie meinen Sie das?
Dumesch: Im Grunde genommen war mir immer bewusst, dass eine Zweistaatenlösung nicht wirklich die richtige Lösung ist. Aber die Hoffnung auf Frieden war trotzdem immer da, der Glaube daran, Recht von Unrecht zu unterscheiden.
Seit dem 7. Oktober aber hat sich bei uns allen grundlegend etwas verändert, nicht nur bei uns Jüdinnen und Juden, sondern zum Teil auch bei der nichtjüdischen Bevölkerung. Das Massaker, der Angriff der Hamas - und ich betone der Hamas, nicht der Palästinenser - auf die Israelis, auf Gastarbeiter, auf alle Menschen in Israel - hat uns allen etwas klargemacht. Dass wir handeln müssen. Und zwar jetzt. Wir und unsere Verbündeten hatten immer im Hinterkopf, dass wir Jüdinnen und Juden beschützen müssen. Das allein ist traurig, Menschen vor etwas schützen zu müssen. Aber jetzt ist der Zeitpunkt, wo wir das auch wirklich tun müssen. In der Vergangenheit haben wir nur davon gesprochen, jetzt müssen wir handeln.
Das Interview führte Hilde Regeniter.