DOMRADIO.DE: Sie haben sich entschieden die Aufarbeitung in die Hände des Münchner Instituts IPP zu legen, das einen sozialwissenschaftlichen Ansatz wählt. Weshalb genau dieser Ansatz?
Br. Markus Fuhrmann OFM (Provinzialminister der deutschen Franziskanerprovinz): Wir wurden von einem Gremium der Deutschen Ordensoberenkonferenz beraten, da sitzt unter anderem Dr. Robert Köhler drin, der die Betroffeneninitiative Kloster Ettal gegründet hat. Diese Initiative hat damals recht gut zusammengearbeitet mit dem IPP. So entstand die Idee. Wir haben aber auch in andere Richtungen sondiert, auch mit anderen Ordensgemeinschaften, ob man vielleicht eine gemeinsame Aufarbeitung angehen kann. Das gestaltete sich aber eher schwierig, weil ja jede Ordensgemeinschaft eine Einheit für sich darstellt und die Fälle oft sehr unterschiedlich gelagert sind.
Auch die Ansätze unterscheiden sich. Das IPP arbeitet sozialwissenschaftlich. Da werden Leitfaden-Interviews geführt, mit Betroffenen, Verantwortungsträgern, Ausbildungsleitern, Zeitzeugen. So wird ein Panorama gezeichnet, dass die Bedingungen aufzeichnet, unter denen es zu sexualisierter Gewalt gekommen ist. Das erschien uns gerade vor dem Hintergrund unserer Ordensexistenz interessant, weil es da ja noch nicht so viel zu gibt. Das erschien uns sinnvoll, um einen Mehrwert zu generieren.
DOMRADIO.DE: Eine große Rolle sollen explizit die Betroffenen spielen, die nicht nur befragt, sondern aktiv beteiligt werden. Dafür haben Sie auch einen Aufruf gestartet. Welcher Gedanke steckt dahinter?
Fuhrmann: Der Aufruf hat zunächst mal den Sinn, dass sich Betroffene melden können, die noch gar nicht in Erscheinung getreten sind. Von den uns bekannten Betroffenen konnten wir einen bereits gewinnen für eine sogenannte Begleitgruppe. Die schaut kritisch auf die Arbeit der Studie, da sind auch noch mal andere Wissenschaftler vertreten, die nicht aktiv an der Studie beteiligt sind. Auch Mitbrüder, die unsere Strukturen gut kennen. Von den Betroffenen ist wie gesagt erst einer in dieser Gruppe vertreten, weshalb wir auch diesen Aufruf gestartet haben.
Das ist aber auch noch mal ein genereller Aufruf, sich zu melden, wenn man im Kontext zur Franziskaner Betroffener von sexualisierter Gewalt geworden ist. Natürlich auch mit der Möglichkeit den Weg der Anerkennungsleistungen einzuschlagen. Bei uns sind auch einige anonyme Meldungen eingegangen, die gar keine Anträge oder Aufmerksamkeit wollten, sondern uns nur auf Fälle aufmerksam gemacht haben, die uns noch nicht bewusst waren. Das war für uns auch eine Motivation, diese Aufarbeitungsarbeit anzugehen.
DOMRADIO.DE: Nun kann man die Ergebnisse ja noch nicht vorweg nehmen, auf zwei Jahre ist die Studie ausgelegt. Aber was denken Sie denn, wie könnte sich der Missbrauchskontext im Orden von anderen Einrichtungen wie Diözesen unterscheiden?
Fuhrmann: Manche Strukturen werden ähnlich aussehen, zum Beispiel im pädagogischen Bereich, bei Internaten. An vielen Stellen wurde da mit Autorität und Macht nicht richtig umgegangen. Da ist zu vermuten, dass es in Ordenseinrichtungen nicht anders aussah.
Spezifisch interessant im Kontext einer Ordensgemeinschaft ist, dass wir nicht wie ein Bistum als Betrieb funktionieren, wo man abends heim geht und sein Privatleben hat. Wir leben, beten und arbeiten zum Teil sogar zusammen. Die Rollen mischen sich. Mal ist der eine der Hausobere und in ein paar Jahren wechseln sich die Aufgaben. Was bringt das an Abhängigkeiten? Genau das muss man untersuchen. Fördert das einen transparenten Umgang, oder führt es zu mehr Vertuschung? Da hoffen wir auf Erkenntnisse um dann dementsprechend auch Konsequenzen zu ziehen.
DOMRADIO.DE: Nun müssen Sie als relativ kleine Provinz mit 212 Brüdern eine Summe von mehreren Hunderttausend Euro stemmen. Wäre es da nicht sinnvoll gewesen, sich mit anderen franziskanischen Gemeinschaften zusammenzuschließen?
Fuhrmann: Wir haben das sondiert. Die Brüder der Kapuziner haben bereits sehr früh, 2010 oder 2011, eine Rechtsanwaltskanzlei beantragt, eine Art Grundstudie zu erstellen, wo ihre zwei, drei Intensivtäter juristisch unter die Lupe genommen wurden. Das kann man überhaupt nicht vergleichen mit dem sozialwissenschaftlichen Ansatz, den wir nun gewählt haben. Ich kann aber auch verstehen, dass die Kapuziner, die sehr viel Prävention auch betreiben, es erst mal dabei beruhen lassen für den Moment.
Mit den Franziskanerminoriten haben wir auch überlegt, bei denen war die Lage mit ihren Fällen aber auch so klar, dass da unser Ansatz auch nicht viel Sinn gemacht hätte. Das ist auch eine viel kleinere Provinz, nur ein Viertel von unserer, muss man dazu sagen. Die haben sich dann auch an eine Rechtsanwaltskanzlei gewandt.
Unsere Fälle rein juristisch aufzuarbeiten wäre wirklich sehr umfangreich. Wenn wir alle Akten ab 1950 durchgehen, das können wir nicht leisten. Wir haben uns für eine Mischung entschieden aus Interviews mit gezieltem Aktenstudium, Hotspots und Mehrfachtäter. So arbeiten wir uns vor. So können wir aber nicht alles und komplett abdecken.
Ich sehe darin auch keinen großen Mehrwert für Betroffene. Deshalb kamen wir zur individuellen Entscheidung für diesen sozialwissenschaftlichen Ansatz.
Das ist in der Tat zwar auch sehr teuer, aber uns ist es wichtig, dass wir immer noch mehr Geld für Anerkennungsleistungen ausgegeben haben, das unmittelbar den Betroffenen zu Gute gekommen ist. So soll es auch sein.
DOMRADIO.DE: Losgetreten wurde der Missbrauchsskdanal 2010, die MHG-Studie kam 2018, das ist 14 bzw. 6 Jahre her. Warum hat es so lange gedauert, bis die Franziskaner diesen Schritt gehen?
Fuhrmann: Das hat jetzt lange gedauert, aber diese Zeit haben wir auch gebraucht. Das ist schlecht für die Betroffenen, das weiß ich und dafür muss ich um Verzeihung bitten. Das hat zu lange gedauert. Wir haben aber natürlich begrenztere Möglichkeiten als die Bistümer. Das gilt auch für alle Orden.
Wir haben als allererstes einen Schwerpunkt gelegt auf den Umgang mit den Betroffenen selber. Gespräche, Anträge, Anerkennungsleistungen. Dann hat auch die Prävention aller unserer Brüder noch mal sehr viel Zeit und Aufwand gekostet. Das war eine gute und wichtige Erfahrung, weil einige Brüder selbst von ihren Missbrauchserlebnissen berichtet haben.
Dann wurde aber die Frage, auch durch die Betroffenen, immer lauter: Was macht ihr denn beim Thema Aufarbeitung? Dann konnten wir erst die Sondierung starten. Tun wir uns mit anderen zusammen? Beantragen wir eine Kanzlei? Wie gehen wir mit unseren Akten und Archiven um? Die deutsche Franziskanerprovinz wurde aus sechs einzelnen Provinzen zusammengelegt.
Die Begleitkommission der DOK war uns da eine große Hilfe. Man hätte auch einen historischen Ansatz wählen können, wie das Bistum Münster zum Beispiel. In der Tat hat das jetzt lange gedauert, aber gut, dass wir nun so weit sind. Das sind wir auch den Betroffenen schuldig.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.