Renovabis sieht kulturelles Erbe der Armenier in Gefahr

Völkermord auf Raten

Am Gedenktag an den Genozid an den Armeniern fordert Renovabis-Leiter Thomas Schwartz dauerhaften Schutz für Armenier. Er warnt vor einer Ausweitung des Bergakrabach-Konflikts und sieht die EU in der Pflicht.

Fahnen von Armenien (l.) und Karabach (r.) / © Andrea Krogmann (KNA)
Fahnen von Armenien (l.) und Karabach (r.) / © Andrea Krogmann ( KNA )

DOMRADIO.DE: Woran erinnern die Menschen in Armenien und weltweit an diesem Gedenktag am 24. April? 

Thomas Schwartz / © Dieter Mayr (KNA)
Thomas Schwartz / © Dieter Mayr ( KNA )

Dr. Thomas Schwartz (Pfarrer und Hauptgeschäftsführer von Renovabis): Die Menschen in Armenien erinnern sich an diesem Tag an den Beginn eines Genozids, der vom damaligen Osmanischen Reich am 24. April 1915 losgetreten wurde. 

Über anderthalb Millionen Armenierinnen und Armenier und Christen aus Anatolien wurden damals deportiert und durch die Wüste an neue Siedlungsorte gebracht, hieß es damals. Auf diesem Weg durch die Wüste waren sie brutaler Gewalt ausgesetzt. Damals starben unzählige Menschen. An diese furchtbare Begebenheit wird jedes Jahr am 24. April in Armenien und weltweit erinnert. 

Thomas Schwartz

"Damit verliert dieses sehr alte christliche Volk, das schon im Jahr 301 christlich geworden ist, seine Wurzeln."

DOMRADIO.DE: Vor dem Hintergrund dieses historischen Traumas spielt sich jetzt eine neue Tragödie ab. Was ist der Stand der Dinge im Konflikt um Bergkarabach? 

Schwartz: Im Oktober 2023 hat die aserbaidschanische Armee nach langer Belagerung die Region Bergkarabach, die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, eingenommen. 110.000 Armenierinnen und Armenier, die dort lebten, mussten fliehen und leben jetzt in Flüchtlingsunterkünften in Armenien. 

Die Lage vor Ort in Bergkarabach, in diesem Landstreifen, hat sich dramatisch entwickelt. Mittlerweile gibt es Zeugnisse dafür, dass auch das kulturelle Erbe der Armenier zerstört wird. Erste Kirchen sind bereits dem Erdboden gleichgemacht worden.

Damit verliert dieses sehr alte christliche Volk, das schon im Jahr 301 christlich geworden ist, seine Wurzeln. Und das ist noch nicht alles. Denn Aserbaidschans Hunger nach Land scheint noch nicht gestillt; Aserbaidschans Präsident hat bereits ein Auge auf den armenischen Landstreifen Nachitschewan geworfen, der zwischen dem Iran und einer aserbaidschanischen Exklave liegt. 

Verhandlungen über einen Friedensprozess werden seitens der aserbaidschanischen Regierung immer wieder torpediert, so dass man die Kriegsgefahr tatsächlich als sehr real bezeichnen muss.

Thomas Schwartz

"Wir müssen genau unterscheiden und festhalten, dass Religion in diesem wie in vielen anderen Konflikten missbraucht wird." 

DOMRADIO.DE: Mit den Armeniern sieht sich eine überwiegend christliche Bevölkerung den Aggressionen des muslimischen Staates Aserbaidschan ausgesetzt. Inwiefern ist dieser Konflikt religiös geprägt? 

Schwartz: Nun sind Armenier in ihrer überwiegenden Mehrheit Christen und Aserbaidschaner mehrheitlich Muslime. Aber es handelt sich dabei nicht in erster Linie um einen religiösen Konflikt. Auch wenn die Religion häufig als Vehikel für nationale, politische oder geopolitische Zwecke missbraucht wird, wie wir das in den letzten Jahrzehnten an verschiedensten Konfliktherden immer wieder beobachtet haben. 

Eindrücke aus Armenien - Die Bilder zur Sendung 21 / © Stefan Quilitz (DR)
Eindrücke aus Armenien - Die Bilder zur Sendung 21 / © Stefan Quilitz ( DR )

Tatsächlich verstehen sich die Armenier in ihrer überwältigenden Mehrheit als Christen. In der aktuellen geopolitischen Lage, in der sie zerdrückt zu werden drohen, besinnen sie sich noch einmal neu auf ihre christlichen Wurzeln und fühlen sich mit dem christlichen Abendland verbunden. 

Alle anderen, die jetzt an ihren Grenzen rütteln, sehen sie dagegen als nicht-christliche Kämpfer. Wir müssen genau unterscheiden und festhalten, dass Religion in diesem wie in vielen anderen Konflikten missbraucht wird. 

Thomas Schwartz

"Sondern sie drohen, auch ihre kulturellen und religiösen Wurzeln zu verlieren."

DOMRADIO.DE: Im Schatten des Ukraine-Krieges rückt der Bergkarabach-Konflikt schnell in den Hintergrund. Sie sagen, es dürfe keinen "Genozid auf Raten" geben. Was genau ist Ihre Befürchtung? 

Schwartz: Ich befürchte, dass Armenien Stück für Stück von interessierten Mächten, in diesem Fall besonders Aserbaidschan, besetzt wird. Meine Sorge ist, dass damit wieder Menschen auf die Flucht gedrängt werden. 

Auf diese Weise würden nicht nur Bewohnerinnern und Bewohner aus ihrer angestammten Region vertrieben, sondern sie drohen, auch ihre kulturellen und religiösen Wurzeln zu verlieren. Und genau so etwas beschreibt die Definition der Vereinten Nationen als kulturellen Genozid. 

Thomas Schwartz

"Es darf nicht sein, dass die Macht des Stärkeren in der Völkergemeinschaft obsiegt." 

DOMRADIO.DE: Jetzt sehen Sie die Europäische Union in der Pflicht. Was erwarten Sie von der Staatengemeinschaft? 

Schwartz: Die Europäische Union ist bereits mit einem starken Kontingent an der Grenze zwischen Aserbaidschan und Armenien präsent. Ich kann die Europäische Union nur darin bestärken und sie auffordern, darin nicht nachzulassen und ihre Beobachter an der Grenze tatsächlich deutlich sichtbar in Erscheinung treten zu lassen. 

Kirche in Armenien (shutterstock)

Um Aserbaidschan klar aufzuzeigen, dass es hier keine völkerrechtswidrigen Grenzüberschreitungen mehr vornehmen darf und kann. Es darf nicht sein, dass die Macht des Stärkeren in der Völkergemeinschaft obsiegt. 

Wir haben diese Tendenzen in der Ukraine, wir sehen sie tagtäglich in den Bildern russischer Invasoren. Aserbaidschan sollte sich nicht auf dieses Niveau herablassen, um eigene geopolitische und nationale Interessen gegenüber einem kleinen Land wie Armenien durchzusetzen. 

Thomas Schwartz

"Wir sind mit vielen NGOs dort in täglichem Austausch." 

DOMRADIO.DE: Was kann die katholische Kirche tun? 

Schwartz: Erstens sind wir in Armenien in großem Maß humanitär aktiv. Wir haben Kontakte sowohl mit unseren katholischen Partnern also auch mit Partnern der apostolisch-armenischen Kirche. Wir sind mit vielen NGOs dort in täglichem Austausch. 

Was wir als Kirche außerdem tun können, ist als Gesprächspartner auch mit den aserbaidschanischen Behörden und anderen aserbaidschanischen Vertretern in einem Kontakt zu bleiben und uns damit Möglichkeiten zum Ermahnen aufrecht zu erhalten. 

Das versucht der Heilige Stuhl genauso wie wir als Osteuropahilfswerk. Von daher wollen wir aufmerksam machen auf diese drohende Gefährdung Armeniens, indem wir die Stimme erheben. Wir können das tun, weil wir in dieser Region vernetzt sind und weil wir trotzdem eigentlich keine eigenen Interessen außer den Wohlergehen der Menschen vertreten. Das ist etwas ganz Wichtiges. 

Das Interview führte Hilde Regeniter.

Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan

Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region im Südkaukasus besteht bereits seit über drei Jahrzehnten und führte auch in der Vergangenheit immer wieder zu kämpferischen Auseinandersetzungen. Völkerrechtlich gehört Bergkarabach zu Aserbaidschan. Bewohnt wurde das Gebiet bis Oktober 2020 von rund 150.000-Einwohner*innen. Die Mehrzahl fühlt sich kulturell und politisch Armenien zugehörig. Beide Seiten beanspruchen die Region für sich. Dies führte seit dem 1994 vereinbarten Waffenstillstand immer wieder zu militärisch ausgetragenen Konflikten.

Konflikt in Berg-Karabach (Archiv) (dpa)
Konflikt in Berg-Karabach (Archiv) / ( dpa )
Quelle:
DR