Ukrainischer Jesuit schildert Lage in seinem Land

"Wir wissen genau, wofür wir kämpfen"

Pater Mykhailo Stanchyshyn lebt in Lwiw und hilft den Menschen nach Kräften. Im Gespräch erklärt er, was sein Land jetzt braucht, warum er dem Papst in einem offenen Brief widersprochen hat und warum er Waffen für unverzichtbar hält.

Foto vom März 2024 in Charkiw: Ein Mann radelt nach einem russischen Angriff an einem Elektrizitätswerk vorbei. / © Yevhen Titov/AP (dpa)
Foto vom März 2024 in Charkiw: Ein Mann radelt nach einem russischen Angriff an einem Elektrizitätswerk vorbei. / © Yevhen Titov/AP ( dpa )

DOMRADIO.DE: Pater Mykhailo, ich erreiche Sie in Lwiw (Lemberg) in der Westukraine. Wie sicher ist denn Ihre Situation dort? 

P. Mykhailo Stanchyshyn SJ: Herzlichen Dank für diese Frage. Hier im Westen ist es sicher. Aber in der Mitte der Ukraine und im Osten ist es sehr unsicher. Es gibt fast jeden Tag Sirenenalarm. Es gibt Bombardements, vor allem aber leiden Menschen in den Grenzgebieten. Das heißt, in Charkiw, Cherson oder Odessa. 

Die Grenzgebiete werden jeden Tag bombardiert. Menschen verlieren ihr Leben. Gestern habe ich das Begräbnis von drei Soldaten hier in Lwiw selber miterlebt. Hunderte von Menschen standen auf der Straße und sie warteten auf dieses Begräbnis und sie wollten ihr Mitleid für die Angehörigen ausdrücken. Das ist das Bild von der Ukraine im Moment. 

Mykhailo Stanchyshyn SJ

"Wir kämpfen für unser Existenzrecht, für unsere Kultur, für unsere Sprache, für unseren Glauben." 

DOMRADIO.DE: Der russische Aggressor hat ja zuletzt Geländegewinne erzielt. Wie erleben Sie denn die Gefühle bei Ihren Landsleuten? Sind die jetzt weniger hoffnungsvoll, deprimierter als vielleicht noch vor einem halben Jahr, als es doch besser aussah? 

Stanchyshyn: Nein, deprimiert sind wir nicht. Wir wissen ganz genau, wofür wir kämpfen. Wir kämpfen für unser Existenzrecht, für unsere Kultur, für unsere Sprache, für unseren Glauben. Ja, dieser Krieg dauert eigentlich schon seit über 300 Jahren, der hat nicht erst im Jahr 2014 begonnen und nicht schon gar nicht vor zwei Jahren. 

Wir wissen, dass wir für unsere Kinder kämpfen, für unser Land, für unsere Heimat und für unsere Freiheit. Die Menschen sind bereit zu kämpfen. Selbst die Kinder sammeln Geld für Drohnen, um unsere Armee und unsere Soldaten zu unterstützen. Kein Mensch ist müde. Manchen gefällt das nicht. Am Anfang dachten wir, dass das zwei, drei Monate dauern wird. Aber mittlerweile sind wir für einen Dauerlauf bereit. 

Zerstörte Kirche in der südlichen Ukraine / © Drop of Light (shutterstock)
Zerstörte Kirche in der südlichen Ukraine / © Drop of Light ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Und doch muss die Ukraine ja schwere Schäden hinnehmen. Ganze Städte sind verwüstet worden. Die Schäden an der Infrastruktur sind immens. Die Jesuiten unterhalten ein eigenes Hilfswerk, und Sie sind ja auch selbst aktiv in der Hilfe. Sie haben zum Beispiel auch in Charkiw Unterstützung organisiert. Wie kann denn die katholische Kirche und der Jesuitenorden im Moment den Menschen in der Ukraine helfen?

Stanchyshyn: Ich habe über ein halbes Jahr in Charkiw auch gearbeitet, seit dem Beginn des Krieges in den ersten Monaten. Ich habe dort wirklich sehr große Hilfe von der ganzen Welt erfahren. Das war humanitäre und geistliche Hilfe. Ich bin dem Hilfswerk "Jesuitenweltweit" für die Unterstützung sehr dankbar. Wir haben mit deren Hilfe mehrere Transporte mit humanitärer Hilfe von Lwiw nach Charkiw organisiert. Das liegt ganz nah an der Grenze mit Russland. Ich bin besonders dem Leiter des Jesuitenhilfswerk, Pater Christian Braunigger, dankbar. Wir haben zusammen im Noviziat Fußball gegeneinander gespielt. Und heute kämpfen wir gemeinsam für das Leben in der Ukraine. 

Mykhailo Stanchyshyn SJ

"Wir brauchen auch militärische Hilfe, weil wenn wir aufgeben, wird es in der Ukraine undenkbar viel mehr Opfer geben, wenn wir uns nicht verteidigen."

Ich glaube, wichtig an erster Stelle ist das Gebet. Ich glaube an das Gebet. An zweiter Stelle das Bewusstsein der Solidarität in Deutschland. Ich möchte mich bedanken bei Deutschland und der Kirche in Deutschland, dass sie heute sehr bereit sind, uns zu helfen. Natürlich brauchen wir humanitäre Hilfe. Ja, und wir brauchen auch militärische Hilfe, weil wenn wir aufgeben und uns nicht verteidigen, wird es in der Ukraine undenkbar viel mehr Opfer geben. Es muss gesagt werden, dass wir einfach um das Existenzrecht kämpfen. Es geht nicht um die politische Unterschiede, sondern um das bloße Existenzrecht. 

Wolodymyr Selenskyj und seine Ehefrau Olena bei Papst Franziskus im Jahr 2020 / © Paolo Galosi/Romano Siciliani (KNA)
Wolodymyr Selenskyj und seine Ehefrau Olena bei Papst Franziskus im Jahr 2020 / © Paolo Galosi/Romano Siciliani ( KNA )

DOMRADIO.DE: Papst Franziskus ist immer wieder für seine Äußerungen zum Ukrainekrieg kritisiert worden, weil er Russland nicht klar als Aggressor benannt hat oder sogar in Äußerungen teilweise so zu verstehen war, dass die Ukraine eventuell aufgeben, aber zumindest verhandeln sollte. Sie haben dem Heiligen Vater dazu vor zwei Monaten einen offenen Brief geschrieben. Was war da Ihr Hauptkritikpunkt am Heiligen Vater? 

Mykhailo Stanchyshyn SJ

"Der Papst hat gesagt, dass er zuerst nach Moskau gehen will und erst dann nach Kyjiw. Das bereitet uns Schmerz."

Stanchyshyn: Die Hauptkritik ist, dass er uns bis heute nicht besucht hat. Er hat gesagt, dass er zuerst nach Moskau gehen will und erst dann nach Kyjiw. Das bereitet uns Schmerz. Wir sehen, dass Papst Franziskus uns nicht hört und uns nicht versteht. Er sieht unsere Lage nicht so, wie wir sie sehen. Mit meinem Brief wollte ich ihn einfach zum Dialog einladen. Dass er für uns betet, dafür sind wir sehr dankbar. 

Wir sind in Einheit mit dem Papst. Ich mag seine Schriften sehr, die Enzyklika 'Laudato Si' und andere Texte. Aber sein Verhalten in Bezug auf die Ukraine ist für die meisten in der Ukraine und auch in der Welt nicht verständlich. 

Mykhailo Stanchyshyn SJ

"Würden heute Papst Johannes Paul II. oder Benedikt XVI. leben: Ich glaube, die wären notfalls zu Fuß nach Lemberg gekommen."

Deswegen wollte ich im Namen vieler Menschen, mit denen ich gesprochen habe, ihm meine Meinung ausdrücken und sagen, dass wir die Opfer sind. Ein Besuch nach Lwiw oder nach Kyjiw wäre für uns wirklich eine sehr starke Unterstützung. Würden heute Papst Johannes Paul II. oder Benedikt XVI. leben: Ich glaube, die wären notfalls zu Fuß nach Lemberg gekommen. 

Das wäre für uns eine enorme Unterstützung, auch für viele Menschen, die hier treu zu Rom stehen. Ich selbst bin griechisch-katholisch und ich bin keinem Menschen begegnet, der Zweifel hätte in Bezug auf die Einheit mit dem Papst. Wir brauchen noch mehr ein offenes Ohr und mehr Verständnis für unsere Situation, für unser Land und für unsere Geschichte. 

DOMRADIO.DE: Es gibt ja auch in der katholischen Kirche und auch von katholischen Friedensaktivisten immer wieder Kritik, dass der Fokus so sehr auf den Waffenlieferungen liegt. Haben Sie für diese Stimmen in der Diskussion Verständnis, die sagen, es kann sich doch nicht nur alles um Waffen drehen?

Mykhailo Stanchyshyn SJ

"Gutes heute zu tun, bedeutet, den Feind zu stoppen, damit er nicht weiter tötet."

Stanchyshyn: Eigentlich nicht. Ich glaube, wir brauchen auch Waffen. Natürlich glaube ich, dass letztendlich die Liebe siegen wird. Wenn Sie mich nach der Feindesliebe fragen, dann sage ich, dass im Evangelium steht: Feindesliebe heißt, das Gute tun für den Feind. Gutes heute zu tun, bedeutet, den Feind zu stoppen, damit er nicht weiter tötet, und das Land zu befreien. 

Das ist im Sinne des Evangeliums, sowie beispielsweise alle Verbrecher durch ein internationales Gericht zur Rechenschaft zu ziehen. Oder auch den Wiederaufbau der Ukraine vom russischen Volk zu verlangen. Letztlich geht es auch um Bekehrung, also das Bewusstsein des Volkes zu ändern. Es geht hier nicht um Präsident Putin, sondern um das russische Volk, um sein Bewusstsein. 

Vatikan erläutert Papstwort zur "Weißen Flagge" für die Ukraine

Der Vatikan hat versucht, umstrittene Äußerungen des Papstes zu einem Verhandlungsfrieden im russisch-ukrainischen Krieg einzuordnen. Das zum Heiligen Stuhl gehörende Online-Portal Vatican News verbreitete in mehreren Sprachen, darunter auch auf Ukrainisch, einen Bericht über eine entsprechende Erklärung von Vatikansprecher Matteo Bruni.

Darin heißt es, Bruni habe auf Nachfrage gegenüber Journalisten präzisiert, dass der Papst mit seinen jüngst veröffentlichten Worten zur Ukraine "vor allem zu einem Waffenstillstand aufrufen und den Mut zu Verhandlungen wiederbeleben wollte".

Papst Franziskus / © Andrew Medichini/AP (dpa)
Papst Franziskus / © Andrew Medichini/AP ( dpa )

Wenn wir eine Bekehrung sehen, dann wären wir auch bereit zu verzeihen. Heute einfach von der Verzeihung zu sprechen, wie das Papst Franziskus sagt, das ist Gewalt. Wir müssen die Frauen, die Kinder sehen. Ich sehe sie jeden Tag, die ihre Väter, ihre Männer verlieren und monatelang weinen. Dann von der Versöhnung zu sprechen, ist einfach Gewalt. Die Menschen hier wollen Gerechtigkeit. Wir leisten in der Verteidigung, was wir können. 

Aber letztendlich müssen wir uns der Barmherzigkeit Gottes übergeben. Ich glaube an die Barmherzigkeit Gottes. Johannes der Täufer sagt in der Bibel als der Soldat zu ihm kommt: Sei ein guter Soldat. Er sagt ihm nicht einfach, dass er die Waffen wegwerfen soll, sondern dass er ein gerechter Soldat sein soll. Das sagt das Evangelium. Wir haben das Recht, uns zu verteidigen. Ich will aus der Waffe keinen Gott machen oder sie vergöttlichen. Aber in dieser Situation haben wir das Recht auf Selbstverteidigung. Wir bitten um Verständnis, dass wir auch leben und unsere Kinder verteidigen wollen. 

DOMRADIO.DE: Wer möchte, kann Sie ja die nächsten Wochen live in Deutschland erleben, weil Sie Vorträge halten bei den Jesuiten und auch beim Katholikentag. Was genau ist geplant? 

Stanchyshyn: Ich werde am Katholikentag teilnehmen, wenn ich eine Ausreisegenehmigung bekomme. Und ich habe außerdem noch Begegnungen mit Hilfswerken wie Misereor, oder am 26. Mai habe ich ein Treffen in Berlin beim Canisiuskolleg und andere Termine für Vorträge, die auch auf der Website des Jesuitenhilfswerk zu sehen sind. 

Täglich finden in der Ukraine Beerdigungen von Soldaten statt - wie hier am 17. Februar in Lwiw gleich fünf (Erzdiözese Lwiw)
Täglich finden in der Ukraine Beerdigungen von Soldaten statt - wie hier am 17. Februar in Lwiw gleich fünf / ( Erzdiözese Lwiw )

DOMRADIO.DE: Was wünschen Sie sich von den Menschen in Deutschland für die Ukraine, außer der konkreten Hilfe? 

Stanchyshyn: Das ist vielleicht die wichtigste Frage. Ich wünsche mir das Gebet und das Gefühl der Solidarität. Dieser Krieg ist nicht nur für die Ukraine wichtig, sondern für ganz Europa und insbesondere für Deutschland. Ich wünsche mir, dass Deutschland das pazifistische Denken ein bisschen zur Seite stellt und besser auf die Wahrheit schaut und die Narrative von Russland wirklich erkennt. Denn es geht viel um Verdrehung der Geschichte, um sehr viel Unwahrheit.

Ich bin überzeugt, dass Deutschland das auch sieht und noch mehr sehen wird. Ich bin Deutschland insgesamt sehr dankbar, ich habe die besten elf Jahre meines Lebens hier in Deutschland verbracht, habe in München promoviert und viele Freunde gefunden. Ich glaube, dass die Deutschen uns auch verstehen werden. 

Das Interview führte Mathias Peter. 

Deutschland beherbergt die meisten Ukraine-Flüchtlinge in der EU

Die Zahl der Kriegsvertriebenen aus der Ukraine mit temporärem Schutzstatus in der EU hat wieder die Marke von vier Millionen überschritten. Fast drei von zehn fanden Aufnahme in Deutschland, wie das europäische Statistikamt Eurostat (Mittwoch) in Luxemburg mitteilte. Demnach beherbergte die Bundesrepublik zum Stichtag 30. Juni über 1,1 Millionen Ukrainer und andere Drittstaatsangehörige, die vor dem Krieg geflohen sind, mehr als jedes andere EU-Land.

Anastasiia Kramarenko, Geflüchtete aus der Ukraine, mit ihrem Baby auf dem Schoß und ihrem Sohn daneben in ihrer Unterkunft im Aloisiuskolleg in Bonn am 6. Dezember 2022. / © Julia Steinbrecht (KNA)
Anastasiia Kramarenko, Geflüchtete aus der Ukraine, mit ihrem Baby auf dem Schoß und ihrem Sohn daneben in ihrer Unterkunft im Aloisiuskolleg in Bonn am 6. Dezember 2022. / © Julia Steinbrecht ( KNA )
Quelle:
DR