Expertin erklärt Spannungen in und mit der Orthodoxie

"Ankara negiert weltweite Rolle des Ökumenischen Patriarchen"

Zwischen der türkischen Regierung und dem Ökumenischen Patriarchat mit Sitz in Konstantinopel knirscht es immer wieder. Pfarrerin und Expertin Dagmar Heller ordnet die jüngsten Irritationen in einen größeren Kontext ein.

Die von 532 bis 537 n. Chr. erbaute ehemalige byzantinische Kirche wurde von 1453 bis 1935 – und wird wieder seit 2020 – als Moschee genutzt. / © Hassan Jamal (KNA)
Die von 532 bis 537 n. Chr. erbaute ehemalige byzantinische Kirche wurde von 1453 bis 1935 – und wird wieder seit 2020 – als Moschee genutzt. / © Hassan Jamal ( KNA )

KNA: Die türkische Regierung hat sich gegen die Präsenz des Ökumenischen Patriachats auf der Liste der Bürgenstock-Unterstützer ausgesprochen. Dabei unterstützt die Türkei auch das Communiqué. Wie ist das zu erklären?

Pfarrerin Dagmar Heller (Leiterin des Konfessionskundlichen Instituts der EKD in Bensheim): Es geht der türkischen Regierung an dieser Stelle nicht um möglichst viele Unterstützer des Communiqés, sondern es zeigt sich hier die allgemeine Haltung dieser Regierung gegenüber dem Ökumenischen Patriarchat. Mit anderen Worten: Die türkische Regierung ist generell sehr empfindlich, wenn das Ökumenische Patriarchat den Anschein erweckt, in politischen Fragen mitreden zu wollen. Man hat offenbar Angst davor, dass das Ökumenische Patriarchat einen weltlichen Machtanspruch erhebt.

KNA: Das ist nicht der erste Konflikt zwischen dem Ökumenischen Patriarchat und den türkischen Behörden. Welche Rolle ist die türkische Regierung gewillt, Konstantinopel zuzugestehen?

Heller: Die Regierung in Ankara negiert die Rolle des Patriarchen in der weltweiten Orthodoxie und sieht ihn ausschließlich als Oberhaupt der inzwischen sehr kleinen Gruppe von griechisch-orthodoxen Christen in der Türkei.

KNA: Mit der Präsenz auf dem Bürgenstock hat Bartholomaios seine Rolle auch als politischer Führer unterstrichen. Wie stellt sich das Patriarchat von Konstantinopel die eigene Rolle gegenüber der Staatengemeinschaft und insbesondere der Türkei vor?

Heller: Ich weiß nicht, inwiefern Bartholomaios hier sich innerhalb der Staatengemeinschaft positionieren wollte oder gar gegenüber der Türkei. Die Teilnahme des Patriarchen an der Bürgenstock-Konferenz ist offenbar eng verknüpft mit seiner Rolle im Hinblick auf die orthodoxen Kirchen in der Ukraine. Den Meldungen ist zu entnehmen, dass die Teilnahme von Patriarch Bartholomaios mit Präsident Selenskiy abgesprochen war.

Dagmar Heller

"Sein Motiv dazu war ein pastorales."

Ob die Initiative beim Patriarchen lagoder beim Präsidenten ist unklar. Aber es sieht so aus, als ob Selenskiy durchaus ein Interesse an der Teilnahme des Patriarchen hatte. Zu verstehen ist dies nur auf dem Hintergrund der Vorgänge von 2018, als Bartholomaios versuchte, die drei damals in der Ukraine existierenden orthodoxen Kirchen zu vereinen und damit gleichzeitig zwei bis dahin als unkanonisch geltende Kirchen in die Gemeinschaft der Gesamtorthodoxie zurückzuführen. Sein Motiv dazu war ein pastorales.

Im Resultat wurden zwar die beiden unkanonischen Kirchen zur „Orthodoxen Kirche der Ukraine“ (OKU) vereint, aber die dritte und größte Kirche, die „Ukrainische Orthodoxe Kirche“ (UOK) blieb als eigenständige Kirche bestehen. Daher leben die zwei verbliebenen orthodoxen Kirchen seither in Konkurrenz zueinander. Mit der Teilnahme des Patriarchen an der Ukraine-Konferenz in der Schweiz wurde ein Signal in die ukrainische Gesellschaft gesandt, mit dem die Bedeutung der OKU deutlich gemacht werden sollte. 

Dies wiederum geschieht auf dem Hintergrund, dass derzeit in der Ukraine versucht wird, die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK), die bis zum Beginn des Krieges mit dem Patriarchat von Moskau verbunden war, sich aber davon gelöst hat, in den Hintergrund zu drängen mit Maßnahmen, die auf ein offizielles Verbot dieser Kirche zielen. Gleichzeitig hat der Patriarch aber auch der westlichen Welt demonstriert, dass die Orthodoxie sich für Frieden einsetzt und die Unterstützung des Krieges durch den Moskauer Patriarchen nicht als die Haltung der Orthodoxen Kirche anzusehen ist.

KNA: Wie stehen die anderen orthodoxen Patriarchen zu dieser Vorrangstellung, die auch mit politischem Anspruch akzentuiert wird?

Heller: Unter den autokephalen orthodoxen Kirchen, die sich als die eine Orthodoxe Kirche verstehen, ist die Vorrangstellung des Ökumenischen Patriarchen nicht wirklich geklärt. Die einen pochen darauf, dass es sich nur um einen Ehrenprimat handele, der sich darauf beschränkt, dass der Patriarch in der Rangfolge bei den Fürbitten (den sogenannten Diptychen) an erster Stelle steht und bei panorthodoxen Treffen den Vorsitz hat. Andere - und eben auch der Ökumenische Patriarch selber - bestehen darauf, dass diese Vorrangstellung weitere Rechte umfasst, etwa dass sogenannte Appellationen aus anderen orthodoxen Kirchen an ihn gerichtet werden können oder dass ihm allein das Recht zusteht, einer Kirche die Autokephalie (Selbständigkeit) zu verleihen.

KNA: Warum gibt es auf türkischer Seite die Vorbehalte gegenüber dem alten Namen Konstantinopel und auch dem Titel des „Ökumenischen Patriachats“?

Dagmar Heller

"Die Beziehungen zwischen der türkischen Regierung und dem Ökumenischen Patriarchat sind speziell."

Heller: Obwohl in der Türkei offiziell Religionsfreiheit besteht, gibt es eine ganze Reihe von Maßnahmen gegenüber christlichen Minderheitsgruppen, die als diskriminierend empfunden werden. So haben Kirchen keinen Rechtsstatus, und sie können keine eigenen Schulen unterhalten. Die Beziehungen zwischen der türkischen Regierung und dem Ökumenischen Patriarchat allerdings sind speziell, weil sie durch die Geschichte der Beziehungen zwischen der Türkei und Griechenland geprägt sind. 

Um das kurz zu skizzieren: Die Beherrschung Griechenlands durch das Osmanische Reich endete im 19. Jahrhundert durch den griechischen Unabhängigkeitskrieg und die Gründung der ersten hellenischen Republik. In der Zeit des Ersten Weltkriegs kam es zu einer nationalistischen Bewegung in Griechenland, die von einer Wiederherstellung des Byzantinischen Reiches träumte, aber im griechisch-türkischen Krieg 1919-22 gewann die Türkei.

Dies führte schließlich zu Zwangsumsiedlungen im Rahmen eines offiziellen Bevölkerungsaustausches zwischen beiden Staaten. Aber vor allem seit einem großen Pogrom in Istanbul im Jahr 1955 ist die Zahl der griechischen Bevölkerung in der Türkei verschwindend gering, und das Trauma der Griechen sitzt tief, was wiederum auf der türkischen Seite ein Misstrauen hervorruft, das in eine Diskriminierung der Christen an vielen Stellen mündet.

Dagmar Heller

"Im Hinblick auf das Ökumenische Patriarchat ist der alte Name "Konstantinopel" der türkischen Regierung ein Dorn im Auge."

Im Hinblick auf das Ökumenische Patriarchat ist daher der alte Name "Konstantinopel" der türkischen Regierung ein Dorn im Auge, weil darin ein Anspruch auf die Wiederherstellung des römischen Reiches gesehen wird. Und der Titel „ökumenisch“ wird verstanden als Anspruch auf eine weltweite (oikoumene = die ganze bewohnte Welt) Zuständigkeit.

KNA: Was bedeutet dieser Zusammenstoß für die zukünftigen Beziehungen zwischen Phanar und Ankara?

Heller: Die Beziehungen zwischen dem Ökumenischen Patriarchat und der türkischen Regierung sind von einem Auf und Ab gekennzeichnet. Das Patriarchat hat ein großes Interesse an einigermaßen normalen Beziehungen zum Staat, denn es möchte gerne die 1971 durch den Staat geschlossene Hochschule auf der Insel Halki wieder eröffnen, um seine Priesterausbildung gewährleisten zu können. 

Auf der anderen Seite hat die Türkei immer wieder Interesse an einer Annäherung an den Westen gezeigt; es gibt Beitrittsverhandlungen mit der EU, die allerdings bisher zu keinem Ergebnis geführt haben, unter anderem weil der Umgang des Staates mit den religiösen Minderheiten nicht dem EU-Standard entspricht. Daher wurden beispielsweise 2011 verschiedene Immobilien vom Staat an die Kirche zurückgegeben. 

Aber auch kleine Gesten sind zu erwähnen wie die, dass 2022 der Patriarch wieder in dem renovierten UNESCO-Welterbe-Kloster Sumela eine Liturgie feiern durfte. Im Hinblick auf die Hochschule in Halki habe ich aber seit etwa 2001 beobachten können, dass es mehrmals hoffnungsvolle Signale in Richtung auf eine mögliche Wiedereröffnung gab. Und jedes Mal kam am Ende doch eine abschlägige Antwort. 

Dagmar Heller

"Eine deutliche Islamisierung der Türkei kann man in diesem Zusammenhang feststellen."

Offenbar sind die Kräfte innerhalb der türkischen Regierung, die mit starken andersdenkenden Gruppierungen in ihrem Land nicht umgehen können und deshalb rigoros mit Unterdrückung reagieren, immer wieder stärker. Eine deutliche Islamisierung der Türkei kann man in diesem Zusammenhang auch feststellen, die sich zuletzt darin äußerte, dass die Hagia Sophia und das Chora-Kloster in Istanbul 2020 bzw. 2023 in Moscheen umgewandelt wurden. 

Der Patriarch hat immer wieder offen die schwierige Lage seiner Kirchen und der Christen in der Türkeiallgemein deutlich benannt. Gleichwohl war offenbar an manchen Stellen der Druck der Regierung zu groß, so dass er beispielsweise 2018 den Krieg der Türkei gegen die Kurden im Norden Syriens befürwortet und um den Erfolg der türkischen militärischen Operation gebetet hat. Ähnlich ging es ihm wohl auch jetzt wieder. Ich denke, das Auf und Ab zwischen den beiden Seiten wird also weitergehen.

Das Interview führte Simon Kajan.

Ökumenisches Patriarchat von Konstantinopel

Das Ökumenische Patriarchat in Istanbul ist geistliches Zentrum der orthodoxen Christenheit und repräsentiert rund 220 bis 300 Millionen Christen in aller Welt. Der Überlieferung zufolge gründete der Apostel Andreas den Bischofssitz von Byzantion, dem heutigen Istanbul. Die Residenz des Patriarchats wird nach dem Stadtviertel, in dem sie sich befindet, kurz Phanar (Fener) genannt.

Blick auf Istanbul mit dem Galataturm (m.) / © Hassan Jamal (KNA)
Blick auf Istanbul mit dem Galataturm (m.) / © Hassan Jamal ( KNA )
Quelle:
KNA