Damit verbindet er ein ganzes Programm einer guten Politik. Diese muss sich in erster Linie in den Dienst des Volkes stellen und sich für eine ganzheitliche menschliche Entwicklung und das Gemeinwohl einsetzen. Sie muss sich um die Arbeitslosen kümmern und den Ärmsten den Vorrang geben.
Ein solches Verständnis von Politik ist im Evangelium grundgelegt. Jesus analysierte messerscharf, dass die Mächtigen in aller Regel ihre Macht missbrauchen, um ihr Volk zu unterdrücken und auszubeuten. Dem hält er an seine Jünger gerichtet entgegen:
"Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein." (Mk 10,42-44) Das ist eine revolutionäre Umdeutung der Macht als Dienst.
Das Gemeinwohl als Kompass
Daran anknüpfend entwirft Papst Franziskus im fünften Kapitel seiner Enzyklika "Fratelli tutti" über die soziale Freundschaft das Modell einer guten Politik. Ihr Kompass ist das Gemeinwohl.
Ihr geistiges Herzstück ist die vorrangige Option für die Armen. Denn die Stärke einer Gesellschaft bemisst sich daran, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht. Gute Politik ist eine Form der Nächstenliebe.
Den Unterschied zwischen persönlicher und politischer Nächstenliebe erklärt Papst Franziskus mit einem anschaulichen Beispiel. Einem älteren Menschen zu helfen, einen Fluss zu überqueren, ist unmittelbare Nächstenliebe. Der Politiker baut eine Brücke und schafft damit eine strukturelle und langfristige Hilfe.
Gute Fragen
Im Sinn des ignatianischen Examens empfiehlt der Papst den Politikern, ihre Tätigkeit an folgenden Fragen zu überprüfen: "Wie viel Liebe habe ich in meine Arbeit gelegt? Wo habe ich das Volk vorangebracht? Welche Spur habe ich im Leben der Gesellschaft hinterlassen? Welche realen Bindungen habe ich aufgebaut? Welche positiven Kräfte habe ich freigesetzt? Wie viel sozialen Frieden habe ich gesät? Was habe ich an dem Platz, der mir anvertraut wurde, bewirkt?"
In einem anderen Zusammenhang setzt sich Papst Franziskus mit den "Lastern der Politik" auseinander. Dazu zählen für ihn die Korruption, der Hang zum Machterhalt, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus und die Ignoranz gegenüber den ökologischen Herausforderungen.
Das Glück der Menschheitsfamilie im Blick
Nachdrücklich wendet er sich gegen die wachsenden Tendenzen einer interessengeleiteten Selbstbezüglichkeit, die die globalen Herausforderungen und die Not vieler Menschen aus dem Blick verliere:
"So leben wir momentan in einem Klima des Misstrauens, das in der Angst vor dem anderen oder Fremden, in der Angst vor dem Verlust der eigenen Vorteile wurzelt und sich leider auch auf politischer Ebene durch eine Haltung der Abschottung oder des Nationalismus manifestiert, die jene Geschwisterlichkeit in Frage stellen, die unsere globalisierte Welt so dringend braucht."
Mehr denn je bedürfe es deshalb heute der "Gestalter des Friedens", die sich um "das Wohl und das Glück der Menschheitsfamilie" sorgten.
Ein Beispiel dafür ist der französische Politiker Jacques Delors, der im vergangenen Dezember im hohen Alter von 98 Jahren gestorben ist. Von der christlichen Arbeiterjugend geprägt, fand er seinen Weg in die französische Politik.
Von 1985 bis 1995 wurde er als Präsident der Europäischen Kommission zu einem der einflussreichsten Europapolitiker. Mit dem Satz "Europa eine Seele geben" unterstrich er die geistige Dimension des Projekts der europäischen Einigung.
1995 hatte Delors beste Aussichten, zum Präsidenten Frankreichs gewählt zu werden. Doch er übte freiwillig Verzicht darauf. Seinen Memoiren stellte er das Zitat voran: "Die Welt ist zweigeteilt: In die, die etwas darstellen wollen, und die, die etwas bewirken wollen". Von seinem christlichen Glauben geleitet zählte Jacques Delors als Politiker zu der zweiten Menschengruppe.