Hilfsorganisation kritisiert Abschiebungen nach Afghanistan

Menschenrechte in Gefahr

Nach der Messerattacke von Solingen ist die Flüchtlingspolitik ins Zentrum der Debatte gerückt. Stefan Keßler, Leiter des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes in Deutschland, kritisiert Abschiebungen und mahnt zur Reform des Asylsystems.

Autor/in:
Johannes Schröer
Symbolbild Abschiebung / © Sebastian Gollnow (dpa)
Symbolbild Abschiebung / © Sebastian Gollnow ( dpa )

DOMRADIO.DE: Was halten Sie davon, das Aufenthaltsrecht und das Ausweisungsrecht zu verschärfen? 

Stefan Keßler / © Christian Ender (JRS)
Stefan Keßler / © Christian Ender ( JRS )

Stefan Keßler (Leiter des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes Deutschland): Unser tiefes Mitgefühl gilt den Menschen, die bei der Messerattacke in Solingen getötet oder schwer verletzt worden sind, sowie ihren Angehörigen und Freunden. Der Ruf nach mehr Sicherheit ist verständlich.

Die Verschärfungen beim Ausweisungsrecht werden keine realen Probleme lösen. Ein Fanatiker lässt sich nicht durch Gesetzesänderungen von seinem Vorhaben abbringen. Was wir brauchen, sind Investitionen in gezielte Maßnahmen zur Prävention und zum Gewaltschutz.

Auch die angekündigten Maßnahmen im Zusammenhang mit der Überstellung von asylsuchenden Menschen in den "zuständigen" Mitgliedstaat der Europäischen Union werden in der Praxis eher mehr Verunsicherung und Leid hervorrufen, als dass sie wirkliche Fortschritte herbeiführen würden. 

Die meisten Menschen, um die es hier geht, haben den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat verlassen, weil die Verhältnisse dort unerträglich sind. Wer sich auch nur einmal die Situation von Schutzsuchenden in Griechenland, in Italien oder auch in Belgien vergegenwärtigt, wird verstehen, warum diese Menschen es dort nicht aushalten: Erzwungene Obdachlosigkeit, Verweigerung jedweder staatlichen Hilfe, erhebliche Mängel in den Asylverfahren sind nur einige Stichworte. 

Was wir brauchen, ist eine Reform des europäischen Asylsystems, die sowohl die legitimen Interessen der betroffenen Menschen als auch der Staaten miteinander in Einklang zu bringen versucht. Das Kommissariat der deutschen Bischöfe, der Deutsche Caritasverband und der Jesuiten-Flüchtlingsdienst haben entsprechende Vorschläge skizziert. Wir würden uns freuen, wenn diese Vorschläge in der Diskussion aufgegriffen würden. 

Stefan Keßler

"Die Erfahrung zeigt, dass es bei einmal begonnenen Abschiebungen in ein bestimmtes Land nicht bei Straftätern bleibt."

DOMRADIO.DE: Als wolle die Regierung beweisen, dass den Worten auch Taten folgen, wurden heute Morgen 28 Flüchtlinge nach Afghanistan abgeschoben – dabei soll es sich um Straftäter handeln. Wie ordnen Sie das ein? 

Keßler: Auch Straftäter haben Menschenrechte. Sie in ein Land abzuschieben, in denen die Machthaber selbst die grundlegendsten Menschenrechte mit Füßen treten, ist mit unserer Werteordnung nicht vereinbar. Der Abschiebeflug von heute Morgen löst natürlich auch bei denjenigen Menschen aus Afghanistan, die keine Straftaten begangen haben, große Ängste aus. 

Denn die Erfahrung zeigt, dass es bei einmal begonnenen Abschiebungen in ein bestimmtes Land nicht bei Straftätern bleibt, sondern auch unbescholtene Menschen in Gefahr sind, abgeschoben zu werden. Das Afghanistan unter den Taliban ist aber kein Land, in das Menschen abgeschoben werden dürfen, wenn man den Schutz der Menschenrechte noch ernst nimmt. 

DOMRADIO.DE: Auch sollen Sozialleistungen für Flüchtlinge gestrichen werden, die aufgrund der Dublin-Verordnung kein Asyl in Deutschland beantragen dürfen. Wie sehen sie das? 

Keßler: Die Dublin-Verordnung regelt, wann ein Mitgliedstaat der Europäischen Union zuständig ist für die Prüfung eines Asylbegehrens. Meistens ist das der Staat, über dessen Außengrenze die Person in die Europäische Union eingereist ist, mithin etwa Griechenland, Italien oder Kroatien. 

Wie schon oben beschrieben, herrschen in vielen dieser Staaten Verhältnisse, die keinen wirklichen Schutz für Verfolgte erwarten lassen. Daher sind die betroffenen Menschen gezwungen, in andere EU-Staaten zu gehen, darunter Deutschland. Die Dublin-Verordnung sieht selbst vor, dass Menschen nicht in einen EU-Staat zurückgeschickt werden sollen, wenn dort die Menschenrechte von Schutzsuchenden nicht ausreichend respektiert werden. 

Menschen durch die Verweigerung staatlicher Hilfe, also faktisch durch Aushungern dazu zu zwingen, in den "zuständigen" EU-Staat zurückzukehren, stellt eine massive Verletzung der Menschenwürde und der Prinzipien, auf die unser Sozialstaat gegründet ist, dar. Besonders bei Familien mit kleinen Kindern möchte ich mir das Leid, das hierdurch entstehen würde, nicht ausmalen. 

Stefan Keßler

"Wir wünschen uns Besonnenheit und nicht ein Nachplappern populistischer Positionen."

DOMRADIO.DE: Nach dem Attentat von Solingen und vor den Wahlen in Thüringen und Sachsen ist die Stimmung sehr aufgeladen. Das kann man ja auch verstehen. Doch was muss jetzt passieren – oder anders gefragt, was wünscht sich der Jesuiten-Flüchtlingsdienst – von der Regierung in dieser Situation? 

Keßler: Wir wünschen uns Besonnenheit und nicht ein Nachplappern populistischer Positionen. Ob die geplanten Verschärfungen des Waffenrechts sinnvoll sind, kann ich mangels Expertise nicht beurteilen. Aber die Idee, das Mitführen gefährlicher Waffen in der Öffentlichkeit zu unterbinden, halte ich erst einmal für richtig. 

Ansonsten brauchen wir dringend Investitionen in den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Das bedeutet nicht nur ausreichend Geld für Beratungsstellen und Integrationsmaßnahmen. Sondern es bedeutet vor allem, dass in der politischen Diskussion nicht einzelne Bevölkerungsgruppen – wie zum Beispiel Asylsuchende oder Menschen aus Afghanistan – pauschal verdächtigt und ausgegrenzt werden. 

Die Kirchen und Organisationen wie der Jesuiten-Flüchtlingsdienst setzen sich seit langem dafür ein, schutzsuchende Menschen nicht als anonyme Zahlen oder "Massen" wahrzunehmen, sondern als Individuen mit ihren jeweiligen Fähigkeiten und Bedarfen. 

Zugleich müssen diejenigen Menschen, die sich gegen den Rechtspopulismus stellen oder als Verantwortungsträger besonders in den Kommunen von Rechtsradikalen angegriffen werden, wirksam geschützt und gestärkt werden. Damit verhindert man nicht nur ein Abgleiten unserer Gesellschaft in den braunen Sumpf. Sondern man stärkt auch Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Die Fragen stellte Johannes Schröer.

Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst

Der weltweite Jesuiten-Flüchtlingsdienst wurde 1980 angesichts der Not vietnamesischer Bootsflüchtlinge als internationale Hilfsorganisation gegründet. Heute ist er mit etwa 1.200 Mitarbeitenden in mehr als 50 Ländern vertreten. Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst will Flüchtlingen, Migrantinnen und Migranten in der Öffentlichkeit eine Stimme geben und Stellung nehmen zu Entwicklungen im Ausländerrecht und in der Asylpolitik.

Jesuiten-Flüchtlingsdienst in Aleppo, Syrien, 2018 / © Jean-Matthieu Gautier (KNA)
Jesuiten-Flüchtlingsdienst in Aleppo, Syrien, 2018 / © Jean-Matthieu Gautier ( KNA )
Quelle:
DR