Politologe Püttmann kommentiert Ausgang der Landtagswahlen

Wiederholt sich Geschichte?

In Thüringen ist die AfD erstmals bei einer Landtagswahl in Deutschland stärkste Kraft, in Sachsen liegt sie nur knapp hinter der CDU auf Platz zwei. Ein Zeichen auch der Entchristlichung? Ein Gastkommentar von Andreas Püttmann.

Autor/in:
Andreas Püttmann
Hinweisschild zum Wahllokal in Thüringen / © Swen Pförtner (dpa)
Hinweisschild zum Wahllokal in Thüringen / © Swen Pförtner ( dpa )

Was wohl Helmut Kohl, der Kanzler der Einheit, zum Wahlverhalten der Thüringer und Sachsen sagen würde? Wäre er enttäuscht über Undankbarkeit trotz tatsächlich "blühender Landschaften" im Vergleich zur Tristesse des bankrotten Volksgefängnisses DDR? Erschrocken über den Grad politischer Einfalt, Geschichtsvergessenheit und Skrupellosigkeit 80 Jahre nach der NS-Katastrophe? Würde der Historiker daran erinnern, dass in Thüringen die NSDAP in den Landtagswahlen vom Juli 1932 einen spektakulären Aufwuchs von 11,3 auf 42,5 Prozent hatte, nachdem sie schon 1930 dank der einseitig anti-linken "bürgerlichen" Parteien erstmals in eine Regierung gelangt war? (Von wegen "Entzauberung" an der Macht!) Hitler notierte am 2. Februar 1930 in einem Brief an einen Unterstützer in den USA: "Den größten Erfolg erzielten wir in Thüringen. Dort sind wir heute wirklich die ausschlaggebende Partei. Die Parteien in Thüringen, die bisher die Regierung bildeten, vermögen ohne unsere Mitwirkung keine Majorität aufzubringen". Übrigens nur weil die konservativen und Wirtschaftsparteien lieber mit den Nazis als mit der SPD (32,3 Prozent) koalierten.

Dr. Andreas Püttmann: Politologe und Publizist.   (privat)
Dr. Andreas Püttmann: Politologe und Publizist. / ( privat )

Geschichte wiederholt sich nie genau so wie früher, aber geistige und soziale Strukturen, Mentalitäten und familiäre Prägungen überdauern Generationen. Und jede Bevölkerung bekommt in der Demokratie die Politiker, die zu ihr passen, in deren Art sich die Wähler selbst wiederfinden, die sie sich verdient haben durch ihre Stimme oder Enthaltung (in Sachsen und Thüringen mehr als jeder Vierte). Die Wähler einer Partei sind zwar nicht gänzlich mit deren Funktionären gleichzusetzen. Aber die artige Übung demokratischer Parteien, Rechtsextremisten-Wähler vorauseilend zu exkulpieren und, wie Carsten Linnemann in der "Berliner Runde", als bloße "Protestwähler" zu verharmlosen, hält empirischer Überprüfung längst nicht mehr stand - moralischer sowieso nicht.

Wahlen sind in soziologischer Sicht also weit mehr als Reaktionen auf eine politische Leistungsbilanz oder ein "Warenangebot" der Parteien. Sie haben mindestens ebenso viel, wahrscheinlich mehr zu tun mit Charakter, Bildung, Wertprioritäten und Gefühlshaushalt der Wähler. Justus Bender konkretisierte es nach Recherchen bei Demoskopen und Sozialpsychologen gestern in der FAZ: "Wer besonders extrovertiert ist, also gern im Mittelpunkt steht, wählt eher FDP. Wer besonders offen ist für neue Erfahrungen, eher Grüne. Wer besonders verträglich ist, also hilfsbereit, mitfühlend, freundlich, wählt eher SPD. Und wer das nicht ist, auch eher AfD. Wer Ordnung, Pflicht und Leistung liebt, aber nicht neurotisch ist, gibt seine Stimme eher der CDU." In Abwandlung eines berühmten Wortes von Bill Clinton: It's psychology, stupid!

Die Rechtspopulisten nutzen es, suggerieren einfache Lösungen für komplexe Probleme und regeln erfolgreich Bauchgefühle, Affekte, Ressentiments und Wut hoch. Sie sind die Partei notorischer Unzufriedenheit, des Egoismus, der Selbstüberschätzung. Sie haben wie Trump in den USA oder Farage und Johnson bei den nationalistisch aufgepeitschten Briten den inneren Schweinehund bei den Deutschen geweckt und füttern ihn seit elf Jahren fleißig. Vor allem schüren sie Verschwörungsmythen und Ängste. "Die Neigung zum politischen Radikalismus ist verknüpft mit einer pessimistischen Weltsicht", zitiert Bender Allensbach. Was die AfD biete, sei "ein psychischer Ausweg: Entlastung". Die ostdeutsche Ethnologin Juliane Stückrad beschreibt es so: "Man bestätigt die Ängste der Menschen, indem man die Probleme noch größer redet, als sie sind. Und man erklärt: 'Ihr habt alles richtig gemacht, ihr seid nicht schuld!'" - sondern bloß Opfer böser Feinde, die es gemeinsam zu bekämpfen gilt. Die Sozialpsychologin Vera King erkennt bei dieser negativen Integration eine "Verschmelzungsfantasie". Das Ich geht auf im Wir, das plurale, widersprüchliche Meinungsspektrum im als einheitlich imaginierten Volkswillen; "Das kann entlasten bis hin zu rauschhaften Gefühlen". Historisch: "Volk, steh auf, und Sturm, brich los!"

Demokratie ist ein kognitiver Lern- und habitueller Aneignungsprozess über Jahrzehnte hinweg. Sie hat kulturelle Voraussetzungen, die sie gemäß dem berühmten "Böckenförde- Diktum" selbst nicht garantieren kann. Sie erwachsen auch aus religiösen Grundierungen. Die AfD ist nicht zufällig die bevorzugte Partei der Konfessionslosen, nicht nur im Osten. Die "planmäßige Ausrottung jeder Religion, jedes religiösen Gefühls" (Walter Ulbricht) ist der SED-Diktatur allerdings besser gelungen als jede ökonomische Planerfüllung. Sie fällt uns jetzt auf die Füße: dort, wo es fehlt an Empathie für Flüchtlinge und Achtung der Würde irgendwie andersartiger Menschen, an Solidarität mit der geschundenen Ukraine und Engagement für ein geeintes Europa, am Willen zu sozialem Ausgleich, zur Bewahrung der Schöpfung und zum Widerstand gegen Putins imperialistischen Totalitarismus, an Nachsicht auch gegenüber Politikern. Jedes dieser Themen muss gerade bei Christen Saiten zum Klingen bringen, auf Resonanzräume treffen, die seit der Kindheit normativ und emotional bereitet wurden. Die Wahlergebnisse sind entsprechend: Unter kirchennahen Katholiken erreichte die AfD nach demoskopischen Auszählungen der letzten Jahre nur 2 bis 7 Prozent. Geborgenheit im Letzten gibt Gelassenheit im Vorletzten, an der die Daueraufgeregtheit populistischer Demagogen abprallt.

Die habituelle und inhaltliche Metamorphose der C-Parteien deutet allerdings darauf hin, dass die Entchristlichung auch in der demokratischen Mitte Folgen zeitigt, am stärksten im Konservatismus. Wer jetzt nicht innerlich gefestigt ist und sich als CDU in einer diffusen "Bürgerlichkeit" einrichtet, statt an der christlichen Gesellschaftslehre Maß zu nehmen, der plappert natürlich leichter die Talkingpoints der Demokratiefeinde – Zuwanderungs-Phobie und Vulgärpazifismus – nach. Er vermag Ängsten der geistig-moralisch Unbehausten keine Hoffnung entgegenzusetzen. Er stimmt ein in eine Fremdattribution, die Schuld immer bei anderen, den "Verhältnissen", Strukturen, Ampel-Koalitionären sucht, statt sich auch an die eigene Brust zu klopfen wie früher handfest beim "Confiteor" der katholischen Messe. "Was siehst Du den Splitter im Auge Deines Politikers, den Balken im eigenen Auge aber siehst Du nicht?" Eine ganze Gewissenskultur der Demut, Selbstdistanz, Selbstverantwortlichkeit, Entlastung durch Vergebung und jenseitige Hoffnung, der Zügelung und des Ansporns durch eine letzte Rechenschaftspflicht und der Sicht auf Mitmenschen als "Schwestern und Brüder" schwindet und fehlt immer offensichtlicher auch unserer politischen Kultur.

Die Rechtsradikalisierung zum völkischen Nationalismus hin ist übrigens auch die Gefahr Nummer 1 für unsere "Leitkultur", nicht die 6 oder 7 Prozent Muslime im Land. Und das Kalkül der Merz/Söder-Union, im Wahlkampf vor allem die Grünen zu verteufeln und sich dadurch bei AfD-Wählern einzuschmeicheln, ging nicht auf. Die Grünen sind nun zwar marginalisiert, aber es gibt keine nennenswerte Rückkehr rechtspopulistisch Verhetzter zur Union; im Gegenteil gab die weiter an die AfD und auch ans BSW ab. Wie zur Strafe für ihre opportunistische "Hauptgegner"-Rhetorik muss die CDU nun in Thüringen und Sachsen mit Wagenknechts Partei, in Erfurt sogar zusätzlich mit der Linken koalieren oder kooperieren. Ein schlechter Tausch! Dass der beliebte Ministerpräsident Bodo Ramelow mehr mit Kommunismus, Nationalismus und Putin-Imperialismus zu tun habe als die gelernte Stalinistin, glaubt übrigens niemand, der seine Sinne noch beieinander hat. Nun kann die Thüringen-CDU unter dem gescheiterten Höcke-Entzauberer Mario Voigt Abbitte leisten und ihre Abgrenzungsbeschlüsse überarbeiten. Aber selbst dann kommt man angesichts der parlamentarischen Sperrminorität der AfD nicht aus der Bredouille.

Dass in beiden Ländern etwa die Hälfte der CDU-Wähler angab, "nur" für sie gestimmt zu haben, "damit die AfD nicht zu viel Einfluss bekommt", ist zusätzlich ernüchternd. Mit solchen taktischen "Leihstimmen" plustert man sich besser nicht zum strahlenden Sieger auf. Für Friedrich Merz, der die AfD mal "halbieren" und die CDU gen 40 Prozent führen wollte, wäre nun ein guter Zeitpunkt, auf die Kanzlerkandidatur zu verzichten und einen regierungserfahrenen Parteifreund dafür zu gewinnen. Am besten einen, mit dem man das "C" der Unionsparteien wieder verbinden kann. Die angefochtene Demokratie bedarf einer Partei der Mitte ohne Wankelmut und scharfmacherische Rhetorik, die "das Stinktier zu überstinken" sucht. Keine "AfD mit Substanz" oder zweite, größere FDP, sondern eine Volkspartei mit ideellem Selbststand auf christlich-demokratischem Fundament, offen für respektvolle Zusammenarbeit mit zweifelsfrei demokratischen Konkurrenten. Trotz aller Verwirrung und Verhetzung versammeln die traditionellen demokratischen Parteien im Bund noch über 60 Prozent der Deutschen hinter sich. Für AfD und BSW stimmten gestern 1,58 Millionen. Putin wird auf die Übernahme noch warten müssen.

Information zum Autor: Dr. Andreas Püttmann ist Politologe und Publizist.

Vorläufiges Endergebnis der Landtagswahl in Sachsen

Nach dem vorläufigen Ergebnis wurde in Sachsen die CDU mit 31,9 Prozent der Stimmen erneut stärkste Kraft. Die AfD kam mit 30,6 Prozent auf Rang zwei. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) schaffte aus dem Stand 11,8 Prozent und dürfte bei der künftigen Regierungsbildung ein Wort mitreden. Die SPD erhielt 7,3 Prozent, die Grünen liegen bei 5,1 Prozent.

Der Plenarsaal im Sächsischen Landtag / © Sebastian Kahnert (dpa)
Der Plenarsaal im Sächsischen Landtag / © Sebastian Kahnert ( dpa )
Quelle:
DR