DOMRADIO.DE: Was ist für Sie persönlich das Spannendste an dieser Ausstellung?
Christiane Ruhmann (Kuratorin): Also das Spannendste ist etwas, was ich vorher auch nicht gewusst habe, nämlich dass das Mittelalter und vor allen Dingen das neunte Jahrhundert, dem wir uns widmen, unglaublich antikenbegeistert war, also dass die Menschen damals versucht haben Dinge aus der Antike ausfindig zu machen, antike Schriften ausfindig zu machen, dass sie Spaß an antiken Skulpturen und Bildquellen hatten. Das wollen wir in der Ausstellung gerne zeigen.
DOMRADIO.DE: Was sind da besonders wichtige Exponate?
Ruhmann: Wichtige Exponate sind große Inschriftenplatten mit antikisierender Capitalis quadrata-Schrift. Wir haben die antiken Bronzestatuen von Bärinnen, die in der Kaiserpfalz in Aachen bis heute erhalten sind. Wir haben auch Gemmen. Es ist ein neues Universum, welches sich für das Mittelalter in dieser Ausstellung eröffnet.
DOMRADIO.DE: Das Kloster Chorvey existiert seit über 1200 Jahren. Weil das eigentliche Jubiläum in die Corona-Zeit gefallen ist, werden die Feierlichkeiten jetzt nachgeholt, was gut passt, weil sie nun mit dem zehnjährigen Jahrestag der Erhebung zum UNESCO Weltkulturerbe zusammenfällt. Was ist denn das Charakteristische dieses Klosters?
Ruhmann: Das Charakteristische dieses Klosters ist, dass es ein sehr wichtiges Kloster für die karolingischen Kaiser war. Also es war eines der frühesten Reichsklöster, welches nach der Eroberung des Gebietes durch Karl den Großen, durch den Sohn Karls des Großen, Ludwig den Frommen, in Westfalen gegründet wurde.
Die Leute, die das gemacht haben, die Leute, die da konzeptioniert haben, waren sozusagen der Think Tank am kaiserlichen Hof, und die haben ein paar großartige Antikenrezeptionen für uns hinterlassen, unter anderem eben die genannte Inschriften-Platte.
Es gibt aber auch Wandmalereien mit den Abenteuern des Helden Odysseus, der das Meeresungeheuer Skylla trifft und wunderbare antike Handschriften, unter anderem ein einzigartiges Manuskript der Annalen des römischen Autors Tacitus. Also das ist etwas ganz Besonderes.
DOMRADIO.DE: Das Kloster Corvey ist damit so etwas wie ein Wissensspeicher. Aber warum haben ausgerechnet hier so viele alte Schriften mit antikem Wissen überlebt?
Ruhmann: Wir wissen viel über die Schriften im Kloster Corvey, die da überlebt haben. Aber wir vermuten, dass noch viele andere Klöster ebenfalls diese antiken Schriften überliefert haben, weil das eine der wichtigsten Tätigkeiten von Klöstern war.
Die haben Schriften antiker Autoren abgeschrieben, die sonst überhaupt nicht für uns erhalten wären. Das heißt, man kann sich ein Europa als ein Netz von Klöstern vorstellen, die alle versucht haben, antike Literatur abzuschreiben, und zwar für den Schulunterricht.
Die Klöster wollten ihr hochrangiges Latein nicht verlieren. Die wollten Dichtkunst studieren, damit sie besser predigen konnten. Corvey ist zwar ein hochrangiges Beispiel, aber bei weitem nicht das einzige.
Wenn Sie mal ein tolles Beispiel in der Schweiz sehen wollen, dann müssen Sie in die Stiftsbibliothek St. Gallen fahren. Da sind zahlreiche mittelalterliche Handschriften heute noch erhalten.
DOMRADIO.DE: Aber inwieweit prägt denn das, was in Corvey erhalten ist, auch unser heutiges Wissen über die Antike?
Ruhmann: Das ist eine total spannende Frage. Wenn es diese Begeisterung der Mönche, der Skriptorien und der Gelehrten für die Antike nicht gegeben hätte, dann hätten wir heute von der Antike gar nicht mehr den geistesgeschichtlichen Hintergrund der Antike.
Dann hätten wir Tempel, Skulpturen, vielleicht ein paar Inschriften. Aber die Werke von Tacitus, Cicero, Caesar, Sokrates und Platon, die waren auf Papyrusrollen geschrieben und hätten sich nicht überliefert. Wir wissen nur etwas von antiker Philosophie, Politik und Demokratie, weil das im Mittelalter für uns abgeschrieben worden ist. Und das ist der Augenöffner bei dieser Ausstellung.
DOMRADIO.DE: Was wünschen Sie sich denn jetzt? Sollen die Leute aus der Ausstellung mitnehmen?
Ruhmann: Die sollen sich von der Antikenbegeisterung anstecken lassen. Gestern war der erste Tag des Aufbaus und es sind ganz großartige Exponate angekommen, die sehr anschaulich zeigen, wie zum Beispiel die kaiserlichen Werkstätten Elfenbein bearbeitet haben. Da sind fantastische Abbildungen drauf, etwa mit Zentauren.
Oder wie an den großartigen antiken Bestiarien gearbeitet wurde. Es sind Jahrtausende-alte Schriften zu sehen. Auch Schatzkunst ist zu sehen. Die Besucherinnen und Besucher sollen sich einfach begeistern lassen für die tollen Objekte, die wir in der Ausstellung zeigen.
Information der Redaktion: Das Diözesanmuseum Paderborn zeigt die Ausstellung "Corvey und das Erbe der Antike vom 21.09.2024 bis zum 26.01.2025: https://www.erbe-der-antike.de/