Katholik erinnert sich an DDR-Montagsdemos vor 35 Jahren

"Damit hatte niemand gerechnet"

Vor 35 Jahren begannen in der DDR die Montagsdemonstrationen, die entscheidend für die Wende 1989 waren. Katholik Christoph Kießig demonstrierte damals mit. Er erinnert sich an die Aufbruchstimmung, aber auch an brenzlige Situationen.

Autor/in:
Tobias Fricke
1989 in Leipzig: Menschenmassen bei der Montagsdemonstration auf dem Karl-Marx-Platz / © N.N. (dpa)
1989 in Leipzig: Menschenmassen bei der Montagsdemonstration auf dem Karl-Marx-Platz / © N.N. ( dpa )

DOMRADIO.DE: Wie waren Sie persönlich damals gesinnt? Konnten Sie sich mit dem Leben in der DDR arrangieren? 

Christoph Kießig (Erzbistum Berlin)

Christoph Kießig (Erzbischöfliches Ordinariat Berlin): Ja, wir waren auf jeden Fall welche, die zu der kleiner werdenden Fraktion gehörten, die sagte: Nee, wir gehen nicht weg, wir bleiben hier. Denn im Sommer '89 hatten sich viele Leute über die Urlaubsländer des Ostens in den Westen verabschiedet. Ende der 1980er Jahre hatten auch viele aus unseren Freundeskreisen, die hier nicht mehr klarkamen, Ausreiseantrag gestellt und waren weg. 

Christoph Kießig

"Man merkte schon in der Zeit davor, es verändert sich etwas."

Wir haben gesagt: Nee, das kann nicht sein, wir können nicht abhauen, wir müssen hier bleiben, wir müssen hier etwas verändern. Wir hatten eine Familie, im September 1989 ist unser erster Sohn geboren. Ich hatte hier eine Band, wir waren unterwegs. Ich hatte einen tollen Beruf. Ja, das war mein Lebensgefühl und man merkte schon in der Zeit davor, es verändert sich etwas. 

Bürger der DDR nehmen an einer Montagsdemonstration in Leipzig teil / © frm (dpa)
Bürger der DDR nehmen an einer Montagsdemonstration in Leipzig teil / © frm ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie waren damals Referent in der katholischen Jugendseelsorge. Die katholische Kirche war damals sehr still. Warum eigentlich? 

Kießig: Die katholische Kirche war sehr still, weil sie nicht auf dem Radar des Staates auftauchen wollte. Die Maxime in den Jahren davor immer war 'Wir halten uns aus der Politik raus und hoffen, dass die sich raushalten aus unserem kirchlichen Leben.' Deswegen ist viel auch passiert, aber immer sehr leise, nicht offiziell. In der Wendezeit, als die politische Lage kippte war, konnte man natürlich nicht so schnell die Strategie ändern.  Wir wollen uns mit dem Staat nicht anlegen, das war die oberste Devise. 

DOMRADIO.DE: Der damalige Bischof von Berlin, Joachim Meisner, hat sich damals gegen katholische Aktivitäten für den Frieden gewehrt.

Kießig: Wir hatten eine sehr aktive ökumenische Jugendarbeit in allen Bereichen der Kirche. Da kriegten wir mit, wie die auf diese Situation reagierten. Wir wollten in Berlin in der Hedwigskathedrale ein Friedensgebet abhalten. Die vielen Jugendlichen, die in unseren Veranstaltungen waren, fragten uns immer. Da kam von oberster Stelle immer eine Absage. Es sollte keine Friedensgebete, keine Mahnwachen in der Kathedrale geben. In Berlin hat sich das dann auf die Gethsemanekirche konzentriert. Viele von unseren Jugendlichen waren dann in den evangelischen Kirchen vor Ort an den Aktionen beteiligt, die dort stattfanden. 

Christoph Kießig

"Die katholische Kirche war sehr still, weil sie nicht auf dem Radar des Staates auftauchen wollte."

DOMRADIO.DE: Sie waren bei den ersten Montagsdemos dabei. Was war das für eine Stimmung? 

Kießig: Wir hatten in den Jahren zuvor schon große Jugendtage, bei denen man auch merkte, dass sich etwas bewegt. Es gab am Anfang die Mahnwachen auf dem Alexanderplatz. Da waren mal mehr, mal weniger Leute dabei. Von diesen Mahnwachen ging der Impuls aus 'Wir ziehen vor den Palast der Republik'. Dort sollte der Geburtstag der Republik gefeiert werden, so wie immer. Da waren wir völlig fassungslos. Wie kann man jetzt den Sieg des Sozialismus feiern, wenn die Leute zu Tausenden über die grüne Grenze oder über Ungarn das Land verlassen und alles brodelt? 

Jahrestag der Friedlichen Revolution vor 35 Jahren / ©  Sebastian Kahnert (dpa)
Jahrestag der Friedlichen Revolution vor 35 Jahren / © Sebastian Kahnert ( dpa )

Am Anfang waren es noch überschaubare Demonstrationszüge, da wusste niemand noch so richtig, wie die Staatsmacht reagieren würde. Am 7. Oktober ging es los. Im Palast der Republik wurde gefeiert und draußen standen wir an der Schlossbrücke, die von der Polizei abgesperrt war. Der Aufmarsch war schon sehr martialisch, das kannte ich so bis dahin nicht. Am Abend gab es diese Mahnwache in der Gethsemanekirche nach dem Abendgebet, dann folgte diese brutale Attacke der Polizei, wo viele Leute auch verhaftet wurden. Da sind wir nicht mehr hin, wir hatten ein kleines Kind, das war uns zu heikel.

Christoph Kießig

"Der Aufmarsch war schon sehr martialisch, das kannte ich so bis dahin nicht."

DOMRADIO.DE: So ganz gewaltfrei, wie es heute heißt, war es dann doch nicht im Rückblick?

Kießig: Es war nicht vorhersehbar. Die Leute, die da demonstriert haben, waren eher der harte Kern. Es war noch nicht so eine Massenbewegung. Ich sehe Pfarrer noch vorne auf der Brücke stehen und den Leute zurufen: keine Gewalt, keine Gewalt! Gebt den Polizisten nicht den kleinsten Anlass, loszuknüppeln. 

DOMRADIO.DE: Die Montagsdemos hatten im Herbst vor 35 Jahren ihren Höhepunkt. Hätten Sie gedacht, dass dann im selben Jahr noch die Mauer fällt? 

Kießig: Schon vorher bekamen die ersten Leute Ausreiseanträge, von denen man niemals dachte, dass die jemals in den Westen kommen. Dass sich da was bewegen würde, war uns irgendwie schon klar, das war mein Gefühl. Aber dass es dann so schnell geht, damit hatte niemand gerechnet. Auch wir nicht. 

Das Interview führte Tobias Fricke.

Friedliche Revolution in der DDR

In Leipzig versammelten sich am 4. September 1989 - einem Montag - rund 1000 Menschen vor der Nikolaikirche und forderten unter anderem Reisefreiheit. Daraus entstanden die Montagsdemonstrationen. Bei der größten am 9. Oktober 1989 protestierten 70.000 Menschen in Leipzig friedlich gegen das SED-Regime. Es setzt sich der Ruf "Wir sind das Volk - keine Gewalt" durch. Die sächsische Stadt befand sich an diesem Tag im Belagerungszustand. Polizei, Stasi, Armee und paramilitärische Kampfgruppen waren aufgefahren, um den Montagsdemonstrationen ein gewaltsames Ende zu machen.

DDR-Bürger strömen am 11.11.1989 durch den neuen Grenzübergang an der Bernauer Straße / © Wolfgang Kumm (dpa)
DDR-Bürger strömen am 11.11.1989 durch den neuen Grenzübergang an der Bernauer Straße / © Wolfgang Kumm ( dpa )
Quelle:
DR