DOMRADIO.DE: In einem Bericht zu Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche erwartet man einen umfassenden Überblick. Doch genau das bietet der neue Bericht nicht. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Pater Hans Zollner (Gründungsmitglied der päpstlichen Kinderschutzkommission, Direktor des Instituts für Anthropologie der Päpstlichen Universität Gregoriana): Ja, das liegt an zwei Gründen. Erstens ist die Kommission nicht für die Aufarbeitung oder Verfolgung von Missbrauchsanschuldigungen oder -fällen zuständig. Dafür ist das Dikasterium für die Glaubenslehre in Rom zuständig. Daher steht es ihr nicht zu. Zweitens fehlen in vielen Ländern belastbare Zahlen.
DOMRADIO.DE: Es gibt doch auch Berichte des Vatikans über andere Bereiche wie aufgelöste Ehen oder geweihte Priester. Warum ist das bei Missbrauchsfällen und der Zahl verurteilter Kleriker nicht möglich?
Zollner: Vor etwa fünf, sechs Jahren wurden in dem sogenannten Annuario des Heiligen Stuhls Zahlen zu Missbrauchsanschuldigungen und Entlassungen von Priestern veröffentlicht. Das wurde dann wieder zurückgezogen und ist in den letzten Jahren nicht mehr erschienen. Vermutlich weil man sich und der Öffentlichkeit das nicht eingestehen wollte.
DOMRADIO.DE: Selbst wenn Bischofskonferenzen ihre Berichte dem Vatikan vorlegen, wäre es bei 112 Bischofskonferenzen und den vielen Ordensgemeinschaften kaum möglich, alle vollständig zu kontrollieren.
Zollner: Genau. Der Bericht, den die Kinderschutzkommission vorgelegt hat, bezieht sich nicht auf konkrete Missbrauchsanschuldigungen oder -verurteilungen. Die Kommission hat keine rechtliche Befugnis, solche Informationen zu erfragen. Die vorgelegten Informationen stammen aus den Selbstauskünften von etwa 20 Bischofskonferenzen, zwei Ordensgemeinschaften und einer Hilfsorganisation, der Caritas. Da wurde einfach übernommen, was diese Organisation übermittelt haben - in Punkten des "Safeguardings" und zur Prävention von Missbrauch. Das hat man einfach übernommen und nicht noch einmal mit unabhängigen Experten überprüft. Der Bericht war also durchaus gut gemeint. Aber es fehlt ein objektiver Standard, um verlässliche Daten zu liefern.
DOMRADIO.DE: Durch kulturelle Unterschiede und Ungleichzeitigkeiten ist das Einholen von Daten sicher auch schwer einzuschätzen?
Zollner: Das betone ich seit Jahren. Ein Bericht, der die gesamte Weltkirche abdeckt, wäre sehr aufwendig und würde viel Personal erfordern. Die kulturellen, rechtlichen und sprachlichen Unterschiede sind enorm. In einigen Ländern fehlen die Begriffe, die wir im Deutschen oder Englischen für sexuellen Missbrauch verwenden. Jede Bischofskonferenz oder Ordensgemeinschaft müsste Unterstützung erhalten, um selbstständig Berichte erstellen zu können. Ebenso geistliche Gemeinschaften oder katholische Schulen, die in diesem Bericht gar nicht vorkommen.
DOMRADIO.DE: Was kann und soll die Kinderschutzkommission leisten? Die Situation ist zu komplex für eine umfassende Kontrolle aller Bischofskonferenzen und Ordensgemeinschaften weltweit.
Zollner: Genau, die Situation ist zu komplex. Es bräuchte eine klare Aufgabenbeschreibung der Kommission und wesentlich mehr Ressourcen.
DOMRADIO.DE: Resumee: Es ist also gut, dass es die Kommission und einen Jahresbericht gibt, aber es bleiben viele Fragen offen.
Zollner: Genau. Wie können Rückmeldungen der Bischofskonferenzen und Ordensgemeinschaften unabhängig überprüft werden? Wie lassen sich lokale Besonderheiten einbeziehen? Der Bericht behandelt Themen wie den Missbrauch von Ordensfrauen oder den Schutz von Erwachsenen in vulnerablen Situationen kaum. Oder die sehr wichtige Frage nach dem geistlichen Missbrauch. Diese Bereiche bedürfen weiterer Vertiefung. Unser Institut an der Gregoriana ist bereit, mitzuwirken, aber es braucht ein anderes Vorgehen als den zentralen Versuch, alles unter einen Hut zu bringen.
DOMRADIO.DE: Ein Anti-Missbrauchsbericht, wie er jetzt vorgestellt wurde, ist wichtig, aber das Thema ist noch lange nicht abgeschlossen. Es stehen enorme Aufgaben an.
Zollner: Ganz genau. Ich hoffe, dass es eine Weiterentwicklung geben wird – sowohl in der Methode als auch in der Zusammenarbeit mit ortsansässigen Experten.
Das Interview führte Johannes Schröer.