DOMRADIO.DE: Missbrauch und sexualisierte Gewalt wird aktuell mit einem Motivwagen beim Rosenmontagszug in Köln thematisiert. Ist das für Sie ein angemessener Umgang beziehungsweise ein angemessenes Umfeld, um sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen?
Johannes Norpoth (Missbrauchsbetroffener in der Katholischen Kirche): Ja, selbstverständlich. Dieser Motivwagen ist auf den ersten Blick betrachtet harter Tobak, sowohl für Menschen, die nicht betroffen sind, aber auch für Betroffene sexualisierter Gewalt. Das ist keine Frage. Insofern kann ich die eine oder andere kritische Stimme aus dem Kreis der Betroffenen sexualisierter Gewalt sehr wohl verstehen. Letztlich halten aber die Narren im Karneval dieser Gesellschaft den Spiegel vor.

Wir stellen fest, dass das Thema sexualisierte Gewalt und Missbrauch zunehmend an den Rand gedrängt wird. Und das nicht nur in der katholischen Kirche, sondern auch im gesellschaftlichen Kontext. Insofern begrüße ich es ausdrücklich, dass das Festkomitee Kölner Karneval sich dazu entschieden hat, einen solchen Mottowagen am Montag auf den Zug in Köln zu schicken. Das gibt die notwendige Öffentlichkeit, die dieses Thema zwingend benötigt, und zwar mitten in der Gesellschaft.
DOMRADIO.DE: Wie gehen Sie mit dem Argument um, dass es für Missbrauchsbetroffene eine Art von Retraumatisierung sein könnte?
Norpoth: Ich bin sehr zurückhaltend mit dieser Bewertung. Insofern steht es mir auch eigentlich nicht zu, diese kritischen Stimmen der Betroffenen etwas zu entgegnen. Wenn ein Betroffener diese Form der Kritik an der katholischen Kirche, insbesondere an der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals selbst, kritisiert, dann ist das so.
Wenn Sie tausend Missbrauchsbetroffene haben, dann haben Sie auch tausend Wahrnehmungen und tausend individuelle Geschichten, die dahinterstehen. Insofern steht es mir nicht zu, das zu kritisieren. Das werde ich auch nicht tun. Ich für meinen Teil als Betroffener sexualisierter Gewalt kann mit dieser Darstellung, sowohl des Beichtstuhls als auch mit dem dort veröffentlichten Spruch, sehr gut leben.
DOMRADIO.DE: Ohne Frage haben die katholische Kirche und die Täter schwere Schuld in all den Jahren auf sich geladen. Auch die Aufklärung der Taten und die Benennung der Ursachen ist vor allem mit Blick auf die Weltkirche längst noch nicht abgeschlossen. Auch auf Deutschland bezogen ist längst nicht alles perfekt, aber es gibt viele Studien und zahlreiche Präventionsbemühungen. Kommt so ein Wagen dann nicht längst zu spät? Ist vielleicht der Zeitpunkt einfach schlicht der falsche?
Norpoth: Nein, ich glaube sogar, es ist genau der Richtige. Ich glaube, der Kölner Stadtdechant hat gesagt, der Wagen kommt zehn Jahre zu spät. Eigentlich müsste ein solcher Wagen spätestens seit 2010, 2011 in jedem Rosenmontagszug mitfahren, überall da, wo Mottowagen mit entsprechenden gesellschaftskritischen und kritischen Themen fahren. Sicher, wir verfügen in der katholischen Kirche mittlerweile über entsprechende Präventions-, aber auch Interventionsstrukturen. Da ist schon viel gemacht, aber mindestens genauso viel Luft ist noch nach oben.
Uns bewegen immer noch Fragestellungen von transparenter Aufarbeitung der einzelnen Vorgänge, die wir haben. Ja, wir haben zahlreiche Studien, die insbesondere durch die Bistümer in Auftrag gegeben worden sind. Aber man muss auch sagen, dass wenig von den Inhalten eben dieser Studien wahrgenommen wird.
Ich führe da immer ganz gerne die Studien für das Bistum Münster und auch für das Bistum Essen an. Auf der einen Seite gibt es eine historische Studie, die vom kürzlich auf dramatische Weise zu Tode gekommenen Professor Großbölting, dem die Betroffenen für diese Studien und weit darüber hinaus für sein Engagement zu großem Dank verpflichtet sind, maßgeblich produziert worden ist. Auf der anderen Seite gibt es die soziologisch angelegte Studie des Bistums Essen. Beide Studien geben sehr deutlich über die sehr komplexen Zusammenhänge des Missbrauchskomplexes Auskunft.
Wenn man sich diese beiden Studien nebeneinander legt und gleichzeitig die Entwicklungen in der katholischen Kirche in den letzten 15 Jahren mal danebenlegt, dann stellt man fest, dass es Strukturen und zahlreiche Bemühungen an unterschiedlichen Orten, auch auf den unterschiedlichsten Ebenen, gibt. Aber wir stellen auch als Betroffene sexualisierter Gewalt fest, wie sich insbesondere diejenigen, die sich im Raum der Kirche weiter engagieren und sich dort noch weiterhin zu Hause sehen, das Thema zunehmend ausgrenzen.
In nicht wenigen Gemeinden sind die Menschen dieses Themas überdrüssig. Sie haben aber noch nicht wirklich verstanden, was dieses Thema für die Betroffenen, für die Opfer, für die Überlebenden des Missbrauchs bedeutet, nämlich lebenslanges Leiden. Insofern wird und muss dieses Thema diese Kirche auf immer und ewig begleiten. Das ist leider so.
DOMRADIO.DE: Noch einmal ein Blick auf den Motivwagen. Kritik kommt vom Erzbistum Köln in Form eines Offenen Briefes. Bei der Darstellung des Wagens werde Jesus Christus direkt mit der Missbrauchsthematik durch den Satz "Jesus liebt dich" und einer lockenden Hand aus dem Beichtstuhl verbunden. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?
Norpoth: Nein, überhaupt nicht. Insbesondere dann nicht, wenn sie aus dem Hause oder aus der Ebene von Verantwortungsträgern in der katholischen Kirche kommt. Ich habe gerade diese beiden Studien herangezogen. Beichtstühle waren Tatorte. Kleriker haben sich unter diesen theologischen Schutz, der dort auch zum Ausdruck kommt, gestellt und damit letzten Endes ihre eigenen Taten, ihr eigenes schändliches Verhalten, theologisch begründet.

Deshalb sind dieser Beichtstuhl und dieser Spruch zusammen quasi ein Sinnbild für Missbrauch in der katholischen Kirche: Einerseits als Tatort. Da gebe ich tatsächlich zu, dass es insbesondere für die Betroffenen, die dort entsprechende Erfahrungen gemacht haben, sicherlich nicht unkritisch ist, gar keine Frage.
Dieser Beichtstuhl und dieser Spruch stehen zusammen aber auch als Sinnbild für die Vertuschung, für das jahrzehntelange Verschweigen, für Strukturen des organisierten Verbrechens, bei dem bekannte Missbrauchstäter in andere Bistümer oder zum Beispiel über bischöfliche Hilfswerke nach Südamerika versetzt worden sind und damit deutschen Strafverfolgungsbehörden wissentlich vorsätzlich entzogen worden sind.
Insofern ist dieses Bild eigentlich für das Missbrauchsthema sehr gut ausgewählt. Es steht als Sinnbild auch für Macht und Klerikalismus in der Kirche. Ich kann dem Motivwagen, auch dem Motiv und der Auswahl nur zustimmen. Ich kann an dieser Stelle auch den Wagenbauern und dem Festkomitee Kölner Karneval danken, dass sie den Mut haben, in der heutigen Zeit und in dieser öffentlichen Kritik diesen Wagen am Montag auf den Weg zu bringen.
Besser kann man sich aus meiner persönlichen Wahrnehmung nicht an die Seite der Betroffenen stellen. Das ist ein guter, mutiger und richtiger Schritt.
Das Interview führte Mathias Peter.