DOMRADIO.DE: Was halten sie von der Resolution des Europarates. Ist das mehr als eine Erklärung des guten Willens?
Karl Haucke (Betroffener von körperlicher, sexualisierter und spiritueller Gewalt in einem katholischen Ordensinternat, Aktivist für die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch): Ich glaube, es ist wichtig zu wissen, dass die Konferenz vom Europarat gemeinsam mit der Schweizer Delegation und der Guido-Fluri-Stiftung unter dem Titel "Der Kampf des Europarates gegen Kindesmissbrauch in Europas Institutionen" ausgerichtet wurde. Rund 100 Teilnehmende, von Minister*innen bis Parlamentarier*innen, von Betroffenen bis Expert*innen aus ganz Europa tauschten sich über die Umsetzung der Resolution 2533 aus, die Sie eben umrissen haben.
Ich war im Januar 2024 bei der Aussprache und schließlich der Verabschiedung der Resolution im Europarat dabei. Ich habe die Ernsthaftigkeit in den Argumentationen damals wahrgenommen. Deswegen habe ich mitgejubelt, als das Abstimmungsergebnis mit nur einer Gegenstimme für die Verabschiedung dieser Resolution ausfiel. Ohne Frage, der gute Wille zur Umsetzung ist da. Wie weit er trägt oder eben auch nicht, haben wir bei der kürzlichen Bilanzkonferenz zumindest teilweise erfahren können.
DOMRADIO.DE: Wie steht denn Deutschland im europäischen Vergleich da? Sind wir mit anderen Ländern auf Augenhöhe, was die Aufklärung und Vorbeugung von sexualisierter Gewalt betrifft?
Haucke: Deutschland hat, wie Kerstin Claus es auf der Konferenz auch beschrieb, mit der Etablierung des Amtes der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) eine europaweit einmalige, politisch mandatierte Struktur geschaffen. Unterstützt wird sie vom Betroffenenrat auf Bundesebene und wir haben die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Damit kann Deutschland eine Vorbildfunktion einnehmen. Aktionen wie "Schule gegen sexuelle Gewalt" und die Sensibilisierungskampagne "Schieb die Verantwortung nicht weg" oder auch das neue "Zentrum für Safe Sport" als Kontrollinstanz und unabhängige Anlaufstelle für Betroffene wären ohne diese Strukturen nicht möglich gewesen.
DOMRADIO.DE: Nun gibt es in Europa ganz unterschiedliche Regierungen. Ist man sich trotz aller politischen Differenzen einig, was Aufklärung und Vorbeugung sexualisierter Gewalt betrifft?
Haucke: Unterschiedliche Auffassungen von Aufklärung und Aufarbeitung sind wichtige Stichworte. Ich möchte ein kleines Beispiel geben. Der Betroffenenvertreter aus Spanien hat in seinem Beitrag die parlamentarische Reaktion auf das institutionelle Missbrauchsgeschehen in seinem Land angeprangert. Es hat mich sehr berührt, dass er selbst diesen Hinweis als einen "kleinen Akt persönlicher Genugtuung" bezeichnete. Es ist erschreckend, dass ich selbst den Namen dieses Überlebenden sexualisierter Gewalt hier nicht nennen mag, weil ich befürchten muss, ihm damit zu schaden. Wir leben immerhin im Europa des 21. Jahrhunderts.
Ein weiteres Beispiel für die prekäre Situation in manchen Ländern: Der Experte aus dem "Institut for the Investigation of Communist Crimes", also aus dem Institut für kriminalistische Aufklärung politisch motivierter Verbrechen in Rumänien, berichtete von den 27 Heimen des Landes vor dem politischen Umsturz, in denen drei- bis fünfjährige Waisenkinder untergebracht waren. Wir erinnern uns alle an die verstörenden Bilder in den Medien. Der Experte berichtete, dass es allein in fünf dieser Heime 2740 ungeklärte Todesfälle gegeben habe. In dieser Situation, so der Experte, habe die Justiz kein Interesse an Aufklärung. Es ist nicht meine Aufgabe, über die Verhältnisse in anderen Ländern zu urteilen, die ich kaum kenne, aber solche Beispiele zeigen, wie notwendig die Forderungen der Resolution des Europarates sind.
DOMRADIO.DE: Und wie sieht es mit der Umsetzung aus? Gibt es in allen Ländern konkrete Ansätze?
Haucke: Nicht in allen Ländern ist es so problematisch wie in diesen beiden Beispielen. Nicht in allen Ländern sind die Strukturen so weit entwickelt wie bei uns. Wichtig ist, dass es regelmäßig solche Bilanzkonferenzen gibt, damit die Länder voneinander lernen und damit die Aktivisten Erfahrungen aus anderen Staaten in die Hand bekommen, um ihre Regierungen besser in die Pflicht zu nehmen. Eine Betroffene aus Frankreich, die ich schon lange kenne, steht in ihrem Land kurz vor der Einrichtung eines Amtes, das vergleichbar mit dem der Unabhängigen Beauftragten. Sie konnte immer wieder mit den Strukturen in Deutschland argumentieren.
DOMRADIO.DE: Inwiefern können auch nicht-staatliche Institutionen Verantwortung übernehmen?
Haucke: Politische Entscheidungen brauchen nachhaltige Strukturen. Solche Strukturen können von Nichtregierungsorganisationen schwerlich aufgebaut werde. Aber nicht staatliche Organisationen können ausdauernd den Aufschrei tun, der hilft, eine Gesellschaft wach zu machen. Im ungünstigsten Falle können sie behördliches und staatliches Unrecht dokumentieren, um es an nachfolgende Generationen weiterzugeben. Das klingt vielleicht zynisch, aber ohne solche Zeugnisse könnten wir heute nicht unsere Kolonialgeschichte aufarbeiten.
DOMRADIO.DE: Inwieweit ging es bei der Konferenz auch um den Missbrauch in Kirchen?
Haucke: In den Berichten Betroffener von sexualisierter Machtübernahme kamen die Kirchen als Tatkontexte immer wieder zur Sprache und auch die Emotionen, die heute noch die Seelen der Kinder von damals bestimmen. Teil meines persönlichen Erlebens an diesen Stellen der Konferenz war die Erinnerung daran, dass die deutschen Bischöfe immer noch mit der trügerischen und betrügerischen Zahl von 3.677 Betroffenen im kirchlichen Bereich sprechen, während wir in Frankreich längst das Ergebnis der Dunkelfeldforschung kennen, die von 330 Tausend Opfer von Klerikern und kirchlichen Mitarbeitern ausgeht. Von einer ähnlichen Größenordnung müssen wir auch hier in Deutschland ausgehen.
Es gibt derzeit keine verlässlichen Daten zum Gesamtbild, zur Häufigkeit sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, zu Tatkontexten, Tätern und Täterinnen. Solche Informationen werden aber gebraucht, um Hilfebedarf und Präventionsmaßnahmen identifizieren zu können. Deshalb ist das vom Amt der Unabhängigen Beauftragten kürzlich in Auftrag gegebene Kompetenzzentrum für Prävalenzforschung, also für Häufigkeitsuntersuchungen und Tatkontexte, so wichtig.
DOMRADIO.DE: Und wie steht die katholische Kirche dort im Vergleich da?
Haucke: Ich habe es eben schon angedeutet. Die katholische Kirche glänzt meiner Einschätzung nach weiterhin mit Informationen, welche die Institution schützen sollen. Das merkt man auch an dem derzeitigen juristischen Umgang in den Bistümern mit der Einrede der Verjährung bei Schmerzensgeldprozessen. Leider hat kein Teilnehmer der Konferenz den Finger in diese Wunde gelegt.
DOMRADIO.DE: Können wir in Deutschland von anderen Ländern lernen, zum Beispiel aus der Schweiz?
Haucke: Das Beste-Praxis-Modell aus der Schweiz, das auch in der Resolution 2533 abgebildet ist, ist ein Ergebnis eines mehrjährigen Diskurses mit allen in diesem Feld beteiligten Personengruppen. Dabei sind sowohl die Kirchen als auch andere toxische Institutionen sowie Politiker und Betroffene an einem Tisch gesessen. Ein solcher Weg stößt in Deutschland bisher nicht auf viel Gegenliebe. Vor allem die Kirchen geben bekanntermaßen ungern ihre Deutungshoheit ab.
DOMRADIO.DE: Was muss in der Zukunft passieren? Resolutionen sind das eine, aber die Praxis zeigt, was sie wert sind. Was wünschen sie sich – besonders für die Betroffenen von sexualisierter Gewalt?
Haucke: Ich sehe die Haltung des "Es muss doch mal genug sein", die in vielen toxischen Institutionen herumgeistert, als gefährlich. Ohne Aufarbeitung funktioniert keine Prävention. Wenn wir nicht endlich Aufarbeitung sexualisierter Gewalt als gesamtgesellschaftliche Aufgabe definieren, werden wir nicht weiterkommen bei der Schaffung sicherer Räume für Kinder.
Für Deutschland habe ich vier konkrete Wünsche. Erstens eine systematische Folgekostenforschung, damit wir endlich Datenmaterial haben für die Alltagserfahrung, dass die Kosten für Kindesmisshandlung in den verschiedensten Versorgungsbereichen höher liegen als die Kosten des Einsatzes für die Rechte der Kinder und für Präventionsmaßnahmen. Zweitens ein Null-Toleranzprinzip gegenüber Tätern, vor allem in Institutionen, wie der Kirche, damit keine Täter in Priesterämtern und keine Vertuscher in Bischofsämtern sitzen.
Drittens eine Ausweitung unseres Blickes, unserer Sensibilität, der Aufklärungs- und Präventionsbemühungen auf das weite Feld des Missbrauchs im Bereich der Familien. Kaum jemand redet davon, dass rund 25 Prozent des Missbrauchsgeschehens innerhalb der engsten Familie stattfinden. Auf den weiteren Familien-und Bekanntenkreis ausgeweitet sind es sogar rund die Hälfte. Und zu guter Letzt eine staatliche Unterstützung für nichts taatliche Organisationen, die sich um Beratung und Hilfe für Betroffene sexualisierter Gewalt kümmern.
Das Interview führte Johannes Schröer.
Redaktioneller Hinweis: Die Schreibweise mit Genderstern entspricht dem Wunsch des Gesprächspartners.