KNA: Laut der Weltbank verzeichnet der Kosovo wirtschaftlichen Aufschwung. Sehen Sie das bereits bei Ihrer Arbeit?
Alfred Pjetri (Direktor der Caritas Kosova): Es stimmt, dass die Wirtschaft in den vergangenen Jahren durch Investitionen in die Infrastruktur und Privatkonsum angekurbelt wurde. Dennoch ist das Land auch 2023 eines der ärmsten der Region. Etwa 23 Prozent der Bevölkerung leben in Armut, 5 Prozent in extremer Armut.
Obwohl die internationale Gemeinschaft und die wachsende Wirtschaft zwar Entwicklung vorantreiben, geht die Arbeitslosigkeit gegen 16 Prozent. Eine schrumpfende Zahl von Familien, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, und eine abnehmende Arbeitslosigkeit erklären sich oft auch durch Abwanderung. Das sollte natürlich hinterfragt und nicht als Erfolg gefeiert werden.
KNA: Mehr als die Hälfte der Kosovaren sind unter 30, ein Drittel jünger als 18 Jahre. Ist das eine tickende Zeitbombe oder eine Chance?
Pjetri: Angesichts dieser demografischen Zusammensetzung sollten Besserungen am Arbeitsmarkt für Jugendliche ganz oben auf der Liste stehen. Fehlende Jobchancen, ein veraltetes Ausbildungssystem und ein Mangel an Praktikumsplätzen erschweren den Zugang massiv. Deshalb haben Frauen und Jugendliche im Vergleich zu anderen Gruppen bisher weniger vom Wirtschaftswachstum profitiert.
Das wiederum lässt ein großes menschliches Potenzial ungenutzt. Tatsächlich könnte die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen zu einer verlorenen Generation an Arbeitskräften führen; geringes Selbstwertgefühl, soziale Unruhen und schwindender sozialer Zusammenhalt könnten folgen.
Dabei hat die kosovarische Jugend außerordentliches Potenzial: Sie ist offener für neue Ideen, Technologien und Denkweisen. Ihre Kreativität könnte in so vielen Sektoren positiven Wandel anstoßen.
KNA: Verstehen Sie die vielen jungen Kosovaren, die ihr Glück in anderen europäischen Ländern suchen?
Pjetri: Persönlich verstehe und respektiere ich es. Das ist ein grundlegendes Menschenrecht. Trotzdem wünsche ich mir eine Chance für die Jugendlichen, ihre Kapazitäten im Kosovo selbst zu nutzen. Gemeinsam müssen wir die Voraussetzungen schaffen, unter denen sich die jüngere Generation entscheidet, im Land zu bleiben und eine Zukunft hier zu erkennen.
KNA: Wie unterstützt Caritas die Jugendlichen?
Pjetri: Wir suchen nach Wegen, wie wir junge Leute näher an den Arbeitsmarkt bringen können. So haben wir Projekte angestoßen, die heute eine der Hauptaufgaben von Caritas Kosova bilden. Wir bieten Karriereorientierung, Vermittlung von Sozialkompetenz und Fachausbildungen, Praktika und finanzielle Starthilfe für Jungunternehmer.
In den vergangenen drei Jahren haben wir 2.500 Jugendliche unterstützt. Und der Erfolg gibt uns Recht: Von den 200 Praktikanten konnten 70 Prozent ihre Arbeit fortsetzen, nachdem unsere Unterstützung endete.
KNA: Über 90 Prozent der Kosovaren sind Muslime, die Caritas eine christliche Organisation. Wie geht das zusammen?
Pjetri: Wir sind seit 1992 tätig und genießen im Land einen Ruf als zuverlässiger Partner. Natürlich schafft die gesellschaftliche Zusammensetzung eine komplexere Umwelt für Caritas – doch wir sind stolz darauf, uns als gelungenes Beispiel für Inklusion bezeichnen zu können, das alle Gemeinden und Religionen vereint. Wir arbeiten mit jedem zusammen und unterscheiden nicht.
KNA: Was stellt heute das größere Problem im Kosovo dar: Spannungen zwischen Serben und Albanern oder soziale Missstände wie Armut undArbeitslosigkeit?
Pjetri: Schwer zu sagen, denn die ethnische Spaltung und die sozioökonomischen Herausforderungen sind miteinander verbunden und begünstigen einander. So gesehen, kann der Kampf gegen Armut und Arbeitslosigkeit auch den sozialen Zusammenhalt stärken. Es stimmt, dass den Kosovo sowohl historische Spannungen zwischen Serben und Albanern als auch wirtschaftliche Herausforderungen plagen.
Jedoch ist das langsame Wirtschaftswachstum ein Problem, das den gesamten Balkan betrifft und immer noch zu politischen Unstimmigkeiten zwischen den Staaten führt. Wirtschaftliche Unterentwicklung fördert die Differenzen; durch politischen Einfluss können die Menschen dann leicht manipuliert werden. Dabei sollte die gesellschaftliche Vielfalt ein Grund sein, noch stärker zusammenzuarbeiten. Vielfalt ist ein Schatz und kann zu nachhaltiger Entwicklung beitragen.
Das Interview führte Markus Schönherr.